Wie viel Wissenschaft ist und bleibt Müll?

Von den 39 Millionen Publikationen, die das Web of Science seit 1900 erfasst hat, wurden 21 Prozent nie zitiert.
Von den 39 Millionen Publikationen, die das Web of Science seit 1900 erfasst hat, wurden 21 Prozent nie zitiert.(c) imago/allOver (imago stock&people)
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Eine Menge von dem, was publiziert wird, bleibt ohne Resonanz und wird nie zitiert. Die Forschung voranbringen kann es doch.

„Publish or perish!“, heißt das Gesetz der Wissenschaft: Veröffentliche oder verrecke! Letzteres kann allerdings auch passieren, wenn etwas Publiziertes von der Zunft nicht aufgegriffen und zitiert wird: Dann hat es offenbar zum Fortschritt der Kenntnisse nichts beigetragen, es ist Müll. Von dem fand 1990 eine Studie in Science (250, S. 1331) über das Schicksal des dort Publizierten einen hoch ragenden Berg: Von dem, was von 1981 bis 1985 in dem Journal stand, wurde bis 1990 über die Hälfte nicht zitiert: 55 Prozent.

Das stieß auf Kritik, weil alles gezählt worden war, was in Science steht, auch Editorials, Leserbriefe etc., nicht nur Originalarbeiten und Reviews. Beschränkt man sich auf die, schrumpft der Müll, allerdings bleibt eine breite graue Zone: Den besten Überblick bietet Web of Science, es wertet 12.000 Journals aus. Diese Daten hat nun Vincent Lavriere, Informationsforscher an der University of Montreal, im Auftrag von Nature (552, S. 162) durchforstet: Von allen Publikationen der Biochemie, die bis 2006 erschienen, blieben bis heute vier Prozent unzitiert, in der Chemie acht, in der Physik elf, in den Ingenieurswissenschaften mit ihren oft hochspezifischen Themen 24, in den Geisteswissenschaften 65.

Nie zitiert seit 1900: 21 Prozent

Summa summarum: Von den 39 Millionen Publikationen, die das Web of Science seit 1900 erfasst hat, wurden 21 Prozent nie zitiert. Früher war der Berg höher, in den letzten Jahren ist er geschrumpft, das ist Lavrieres zweiter Befund. Es kann daher kommen, dass das Internet als Quelle sprudelt, auch Free-Access-Journals machen den Zugang leichter. Umgekehrt kann allerdings auch die Zahl der Selbstzitate gestiegen sein, und Zitierkartelle, die einander in die Höhe treiben, gibt es schon auch.

Aber auch wer keinem Kartell angehört und nirgendwo in einer Referenzliste auftaucht, kann Einfluss auf sein Fach haben. Michael Mac-Roberts etwa, Botaniker der Louisiana State University, zitierte 2010 eine Arbeit von sich selbst aus dem Jahr 1995, in der er ein neu entdecktes Moos beschrieben hatte. Niemand hat das je zitiert, aber in Pflanzenatlanten und Online-Dateien tauchte das Moos allerorten auf. Oder eine Studie des Gesundheitsdiensts von New York, die 2010 in PLoS One einen Spucketest für Aids bewertete. Der Artikel wurde nie zitiert, aber 1500 Mal gelesen und 500 Mal heruntergeladen.

Und wenn etwas doch überhaupt nirgends aufgegriffen wird? So sei es ihm mit seiner ersten Publikation von 1953 ergangen, berichtete Oliver Smithies, der 2007 den Medizinnobelpreis erhielt (er irrte sich, es gibt fünf bekannte Zitierungen und unbekannte wohl auch, über den wuchernden Dschungel der Fachzeitschriften hat nicht einmal das Web of Science einen Überblick). Aber das Ignoriertwerden habe ihn nicht verdrossen, in seiner ersten Arbeit habe er gelernt, wie man gute Wissenschaft betreibt.

Allerdings gibt es wirklich eine Arbeit des heuer verstorbenen Smithies, die nie zitiert wurde, sie erschien 1976 (Cell Genet. 16, S. 178), enthielt den genauen Ort eines Gens des Immunsystems und wurde gemeinsam mit Raju Kucherlapati erarbeitet. Der ist heute in Harvard, er erinnert sich daran, dass die Forschung von 1976 der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit war, die die beiden und ihr Fach voran gebracht hat: „Für mich lag die Bedeutung des Papers darin, dass ich Oliver kennen gelernt habe.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2017)

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