Hunger im Uterus bleibt das Leben lang im Genom erinnert

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Der „Hongerwinter“, mit dem die deutschen Besatzer 1944/45 die Niederländer überzogen, hat denen, die ihn im Mutterleib erleben mussten, Gesundheitsprobleme gebracht, die sich in fortschreitendem Alter zeigten und zeigen. Sie kommen von stillgestellten Genen.

Als im September 1944 die Alliierten einen Vorstoß in die Niederlande unternehmen wollten, wurden sie von deren Eisenbahnern mit einem Streik unterstützt, der die deutschen Besatzer lahmlegen sollte. Der Plan gelang nur partiell, die Deutschen schlugen hart zurück, schnitten in den von ihnen gehaltenen Regionen die Bevölkerung weithin von der Lebensmittelversorgung ab. Die Folge war der „Hongerwinter“, in dem es fünfeinhalb Monate lang zwischen 400 und 600 Kilokalorien täglich zu essen gab – wir nehmen um die 3500 zu uns –, für alle, auch für Schwangere. Über 20.000 Menschen verhungerten. Dann kamen die Alliierten doch, die Versorgung normalisierte sich rasch.

Aber die Spuren des Hungers zeigen sich bis heute, an denen, die damals noch gar nicht geboren waren, sondern erst im Mutterleib heranreiften. Dass dort Weichen für das ganze Leben gestellt werden, weiß man aus Tierversuchen, in denen etwa mehr weibliche Junge geboren werden als männliche, wenn die Mütter Hunger leiden. Derartige Experimente kann man mit Menschen natürlich nicht unternehmen, es gab sie doch: Als Mao Zedong im November 1957 sein Volk zum „Großen Sprung nach vorn“ aufrief, brachte er damit drei Jahre Hunger und 30 Millionen Tote. Kinder wurden trotzdem geboren, mehr Mädchen als Buben.

Das war in den Niederlanden nicht so, offenbar war die Hungerzeit zu kurz, um das Geschlechterverhältnis zu beeinflussen. Aber sie war lange genug, um sich auf die Gesundheit auszuwirken: Das fiel erstmals auf, als die Rekruten des Jahrgangs 1945 zur Musterung kamen: Viele von ihnen waren dickleibig, man sorgte sich auch um ihr Gehirn, fürchtete einen niedrigen IQ, das war unbegründet. Als dieser Jahrgang aber in das Alter von 50 kam, zeigten sich auch Schäden im Gehirn, die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit hatte gelitten.

Dickleibigkeit, Diabetes, Herzleiden

Das lag vermutlich an der generell schwächeren Durchblutung des Körpers, die zeigte sich in diesem Alter auch an gehäuften Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zudem waren das Übergewicht gestiegen und die Diabetesrate, vor allem bei denen, die in den ersten Phasen der Schwangerschaft im Uterus gehungert hatten. Das ist alles gut dokumentiert, weil auch im Hongerwinter die medizinische Infrastruktur der Niederlande aufrecht blieb. Und später wurden sorgsame Statistiken geführt, etwa in der „Dutch Hunger Families Study“. Denen entnahm der Epidemiologe Lambert Lumey (Columbia University) 2013, dass die Sterblichkeit bei den nun 68-Jährigen um zehn Prozent höher lag als bei Altersgenossen aus dem besser versorgten Teil der Niederlande.

Wie geht das zu? Natürlich spielen Gene mit, aber Gene werden durch die Umwelt nicht geändert, auch nicht durch die im Uterus. Aber: Die Aktivität der Gene wird durch die Umwelt geändert, mit Mechanismen der Epigenetik, einer ist das Stillstellen von Genen durch das Anhängen von Methylgruppen. Die hat Lumey nun gemeinsam mit Bastiaan Heijmans (Leiden) in großem Stil durchgemustert, an 422 Kindern aus dem Hungerwinter und 463 ihrer Geschwister, die zuvor oder danach ausgetragen worden waren. Da fand sich etwa ein durch Methylierung stillgestelltes Gen das beim Verbrennen von Energie mitwirkt, PIM3, ist es inaktiv, droht Fettleibigkeit. Man stieß auch auf Gene, deren Methylierung für erhöhte Konzentrationen von Triglyzeriden im Blut sorgten, das sind Blutfette, die auf Herz und Kreislauf schlagen: „Wir haben gezeigt, dass eine ungünstige Umwelt in der frühen Entwicklung und Auswirkungen auf die Gesundheit sechs Jahrzehnte später durch epigenetische Mechanismen vermittelt werden können“, schließen Lumey und Heijmans (Science Advances 4:eaao4364).

Ursache: Mangel oder folgende Fülle?

Allerdings bleibt noch viel zu klären, darauf deutet ein anderes Grauen der deutschen Wehrmacht, das in Leningrad: Fast vier Jahre war die Stadt blockiert, 1,1 Millionen Bewohner sanken dahin, die meisten an Hunger. Aber Spätfolgen wie in den Niederlanden sind nicht bekannt. Das kann natürlich daran liegen, dass die Gesundheit der Leningrader nicht so gut dokumentiert wird. Es könnte aber auch daher kommen, dass sich die Versorgung in Leningrad nach der Blockade nur wenig besserte, und dass für die auf Hunger programmierten Holländer die Fülle nach dem Mangel zum Verhängnis wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2018)

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