Reaktionsfreudiges Edelgas?

Die Elektronen der Atome sind in Schalen angeordnet, haben wir gelernt. Für das Element Nummer 118 scheint das kaum mehr zu gelten.

Wer von uns ein Periodensystem über dem Schreibtisch hängen hat, hat darauf wohl die Elemente bis zur Ordnungszahl 118 eingetragen. Wahrscheinlich steht bei diesem (bisher) schwersten Element das Symbol UuO, das ist recht prosaisch, es bedeutet Ununoctium. Schon 1999 behaupteten Forscher am Lawrence Berkeley National Laboratory, sie hätten dieses Element künstlich erzeugt, sie wollten es Ghiorsium nennen (nach dem US-Kernphysiker Albert Ghiorso). Doch die Entdeckung musste wegen Verdachts auf Datenfälschung revidiert werden. 2006 wurde das Element dann in Dubna (Russland) wirklich erzeugt, die Forscher schlugen den patriotischen Namen Moscowium vor, dieser ging dann aber 2016 ans Element 115, während Ununoctium offiziell zu Oganesson wurde, nach Juri Oganesjan, einem der Entdecker.

Es ist etwas Besonderes. Es schließt die siebte Reihe des Periodensystems ab, hat damit die magischen acht Elektronen in der äußersten Schale, sollte also ein träges Edelgas sein. (Es steht unter Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon und Radon.)

Verhält es sich chemisch auch entsprechend? Das ist experimentell schwer zu prüfen, es (genauer: das Isotop 294Og) hat eine Halbwertszeit von nur 0,89 Millisekunden. Doch man kann seine Eigenschaften mithilfe der Quantentheorie berechnen, aus der Schrödingergleichung. Dabei muss man allerdings unbedingt deren relativistische – also an die spezielle Relativitätstheorie adaptierte – Variante, die Diracgleichung, verwenden, das wird immer wichtiger, je schwerer die Atome werden. Wenn man z. B. Gold (Nr. 79) „unrelativistisch“ berechnet, kommt nicht heraus, dass es gelb glänzt; bei Quecksilber findet man nicht, dass es bei Raumtemperatur flüssig ist.

Physiker um Paul Jerabek (Auckland, Neuseeland) haben die Elektronenstruktur des Oganesson nun nach allen Regeln der Kunst berechnet (Physical Review Letters, 120, 053001), herausgekommen ist, dass die Elektronen kaum mehr in Schalen angeordnet sind, die Schalen sind „in einem homogenen Elektronengas verschmiert“, wie die Physiker das ausdrücken. Daraus ergibt sich eine hohe Polarisierbarkeit der Atome (was bedeutet, dass die anziehenden Van-der-Waals-Kräfte zwischen ihnen groß sind) und eine hohe Elektronenaffinität, was heißt, dass Oganesson recht reaktiv sein sollte. Ganz untypisch für ein Edelgas. Das könnte den Chemikern einige Überraschungen bereiten. Leider (oder zum Glück) lebt es zu kurz dafür.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.