Einen Sitzplatz mit Fluchtmöglichkeit, bitte

Fahrgäste wollen rasch aussteigen können. Dazu werden U-Bahnen und Straßenbahnen künftig innen anders gestaltet.
Fahrgäste wollen rasch aussteigen können. Dazu werden U-Bahnen und Straßenbahnen künftig innen anders gestaltet.(c) Clemens Fabry
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Wie sollen Straßenbahn und U-Bahn künftig aussehen? Forscher belegen die Bedeutung der Grundbedürfnisse bei der Gestaltung. Besonders gefragt sind Sitzplätze, von denen aus man möglichst schnell draußen ist.

Was die Menschen schon in der Urgeschichte leitete, um das Überleben zu sichern, dürfte bis heute ihr Verhalten prägen. Einer Theorie des britischen Geografen Jay Appleton folgend, sollen wir nämlich Plätze mit einem guten Überblick bevorzugen, um Gefahren zu erkennen, und solche, wo wir zugleich geschützt sind. Ein in Wien und Graz durchgeführtes Forschungsprojekt zeigt nun, dass das bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zutrifft. „Die Plätze, bei denen man am besten hinauskommt, sind die ersten, die benutzt werden“, sagt Bernhard Rüger. Der promovierte Bauingenieur leitete von seinem Wiener Institut Netwiss aus das kürzlich abgeschlossene Forschungsprojekt „Multisensuelles Fahrzeug“. Dabei brachte er zwei Jahre lang Ingenieur- und Sozialwissenschaftler zusammen, um herauszufinden, wann sich möglichst viele Fahrgäste wohlfühlen.

Schutzlosen Rücken vermeiden

In der Untersuchung ließ sich auch das von Appleton formulierte Bedürfnis nach Sicherheit feststellen: „Fahrgäste wollen beim Sitzen oder Stehen von hinten geschützt sein. Wer steht, neigt daher dazu, sich irgendwo anzulehnen oder sich in einen Winkel zu stellen“, so Rüger. Daher seien in der U-Bahn etwa die Plätze mit der Glaswand beim Einstieg besonders beliebt.

Das belegten Beobachtungen, für die sechs Personen – an verschiedenen Wochentagen zu unterschiedlichen Uhrzeiten – insgesamt jeweils 70 Stunden in U-Bahnen und Straßenbahnen in Wien und Graz unterwegs waren. „Wir wollten sehen, welche Bereiche gern genutzt werden und welche immer übrig bleiben“, erläutert Rüger. Das Ergebnis? Die meisten Menschen sitzen lieber als sie stehen: 86 Prozent der 26.445 beobachteten Fahrgäste nahmen Platz, wenn sich die Möglichkeit bot. Bei geringer Auslastung wählten sie lieber einen Fenster-, ansonsten einen Gangplatz. Fix montierte Sitze wurden gegenüber Klappsitzen bevorzugt. „Ungern genutzt wurden Plätze, wo die Leute nicht das Gefühl haben, gut aus dem Fahrzeug herauszukommen, vor allem wenn es sehr voll ist und bei einer Station nur wenige aussteigen“, erklärt der Mobilitätsforscher.

Was überraschte, war, dass sich mit rund 30 Prozent weit weniger Menschen als erwartet mit dem Smartphone befassen. „Man glaubt, jeder schaut nur mehr auf das Handy, aber das stimmt gar nicht“, so Rüger.

Männer bauen Straßenbahnen

Ergänzend zu den Beobachtungen luden die Wissenschaftler auf Flyern in Straßenbahnen in Wien und Graz zu einer Onlinebefragung ein. Insgesamt 300 Fahrgäste beteiligten sich. Auch hier zeigte sich, das Praktisches wie die Anzeige der nächsten Station oder Haltemöglichkeiten weit gefragter ist als etwa das Design.

Dabei lautete die Forschungsfrage des über die FemTech-Förderschiene des Technologieministeriums unterstützten Projekts ursprünglich, inwiefern Öffis die Bedürfnisse beider Geschlechter erfüllen. Denn: „Schienenfahrzeuge werden noch immer primär von Männern geplant und gestaltet“, so Rüger. Doch schon bald zeigte sich, dass die Unterschiede, wie Männer und Frauen das Straßenbahnfahren wahrnehmen, gering sind und verschwimmen. „Es sind etwa auch immer mehr Männer mit Kinderwagen unterwegs.“ Die Forscher betrachteten das Thema breiter.

Gibt es ihn dennoch, den kleinen, feinen Unterschied? Beim Geruchsempfinden reagierten Frauen tatsächlich sensibler. Für Rüger ein Beleg für die Bedeutung guter Be- und Entlüftungen. Die Idee, Öffis künstlich zu „beduften“, verwarf man nach der Befragung indes wieder: „Jeder nimmt Gerüche anders wahr, egal ob Männer oder Frauen.“ Daher sei es wichtig, für „neutrale“ Luft zu sorgen.

Auch beim Temperaturempfinden zeigten sich Unterschiede: Frauen froren eher. Dass Heizung und Klimaanlage funktionieren, war jedoch – unabhängig vom Geschlecht – bei allen nach Aspekten für das Wohlbefinden befragten Fahrgästen der wichtigste Punkt. Hier scheint es aber schwierig, es allen recht zu machen. Erhebungen aus der Bahn hätten gezeigt, dass drei Viertel der Fahrgäste die jeweilige Temperatur als angenehm empfinden. Das restliche Viertel teilte sich in eine Hälfte, der zu warm, und eine, der zu kalt war.

Kein privates Wohnzimmer

Die Erkenntnisse gehen nun an Hersteller und Betreiber von Schienenfahrzeugen und sollen in die Gestaltung neuer Garnituren einfließen. Dabei brauche es immer einen Mix, der dem Kunden maximalen Komfort und Herstellern und Betreibern mehr Profit bringt – schließlich soll eine bessere Ausstattung mehr Menschen animieren, die Öffis zu nutzen. „Das private Wohnzimmer für jeden wird sich nicht rechnen“, so Rüger.

So manche Verbesserung erkennt er schon in neuen Straßen- und U-Bahnen. „Man geht immer mehr weg von den klassischen Bestuhlungen, bei denen man nach dem breiten Türraum 90 Grad abbiegen und in einen engen Gang gehen muss, sondern schafft große Auffangräume“, schildert er. Es gibt Bereiche mit Quersitzen, teilweise statt Vierer- Dreiersitzgruppen, bei denen alle Plätze relativ gut erreichbar sind.

Welche Ideen vielleicht aus seinen Projekten stammen, weiß er nicht – es obliegt den Unternehmen, was sie wie in die Praxis umsetzen. Jedenfalls nutze er selbst Öffis vor seinem anwendungsorientierten Forschungshintergrund sehr aufmerksam, erzählt Rüger: „Man sieht vieles mit anderen Augen, wenn man unterwegs ist.“

IN ZAHLEN

300 Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel in Graz und Wien befragten Wissenschaftler im Projekt „Multisensuelles Fahrzeug“.

26.445 Fahrgäste wurden beobachtet, um so das natürliche Verhalten festzustellen. Das Forschungs- und Beratungsunter-nehmen Netwiss koordinierte, Projektpartner waren die TU Wien, die FH St. Pölten, das Interdisziplinäre Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur sowie das Ingenieurbüro Michael Petz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2018)

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