Enttäuschung in Physik: Das Elektron bleibt rund

Das Standardmodell der Teilchenphysik steht, und es steht gut.
Das Standardmodell der Teilchenphysik steht, und es steht gut.(c) imago/United Archives International (imago stock&people)
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Seit gut 40 Jahren hoffen theoretische Physiker auf Daten, die über das Standardmodell der Teilchenphysik hinausweisen. Doch auch bei einer sehr genauen Bestimmung der Ladungsverteilung des Elektrons fand sich keine Spur bisher unbekannter Elementarteilchen.

Zwölf Elementarteilchen (darunter z. B. das Elektron und sechs Quarks) bauen die Materie auf, fünf weitere Teilchen stehen für drei der vier Grundkräfte (die vierte, die Gravitation, passt nicht wirklich dazu), dazu kommt noch das erst 2012 nachgewiesene Higgs-Boson: Das Standardmodell der Teilchenphysik steht, und es steht gut.

Zu gut – finden viele Theoretiker. Sie haben ein merkwürdig gespaltenes Verhältnis zum Standardmodell, sie wünschen sich ganz offen, dass endlich Physik entdeckt wird, die über es hinausweist.

Denn es lässt einiges unerklärt. Etwa warum es im Universum so viel Materie gibt und kaum Antimaterie. Laut Standardmodell hätten die beiden in gleichen Mengen entstehen und einander längst auslöschen müssen. Unzufrieden sind auch die Vertreter einer Supersymmetrie, die die starke Kraft mit der schwachen Kraft und dem Elektromagnetismus vereinen soll: Sie meinen, dass es zu jedem Teilchen des Standardmodells ein supersymmetrisches Pendant geben müsste. Doch man hat auch im stärksten Teilchenbeschleuniger bisher keines davon nachweisen können. Das heißt, dass diese Teilchen, wenn es sie denn gibt, allesamt ganz schön schwer sein müssen. Was wieder den Vorteil hätte, dass sie gleich auch die rätselhafte dunkle Materie erklären könnten . . .

Im Vakuum ist vieles möglich

Auch die nun in Nature (17. 10.) publizierte Messung erhöht die Schranke, über der die Massen etwaiger bisher unbekannter Elementarteilchen liegen müssen, beträchtlich, über die Kapazität des derzeit größten Teilchenbeschleunigers, des LHC in Genf, hinaus. Gemessen wurde das Dipolmoment des Elektrons. Es hat keines, sagt das Standardmodell: Seine Ladungsverteilung ist perfekt kugelförmig. Wenn es aber schwere Elementarteilchen jenseits des Standardmodells gäbe, dann würden sie die Ladungsverteilung leicht verzerren – auch wenn sie gar nicht real präsent sind. Denn im Vakuum der Quantenelektrodynamik – die auch im Standardmodell regiert – bilden sich fortwährend Paare von Teilchen und ihren Antiteilchen, um schnell wieder zu verschwinden. So kurz ihre Existenz ist, sie tut ihre Wirkung. Man kann etwa die Eigenschaften des Elektrons nicht exakt berechnen, ohne die es umgebende Wolke an stets entstehenden und wieder vergehenden Teilchen einzukalkulieren. (Genau das tut die Quantenelektrodynamik.)

Jedenfalls fand sich bei der Messung keine Spur von unbekannten schweren Teilchen. Denn die Ladungsverteilung wurde als perfekt kugelförmig bestätigt. „Wenn ein Elektron so groß wie die Erde wäre, könnten wir detektieren, wenn sein Mittelpunkt um eine Entfernung verschoben würde, die um eine Million Mal kleiner als ein Haar ist“, sagt Gerald Gabrielse, Leiter des Experiments: „So empfindlich ist unsere Apparatur.“ Er weiß: „Wenn wir entdeckt hätten, dass das Elektron nicht völlig rund ist, wäre das die größte Schlagzeile der Physik seit Jahrzehnten.“ Trotzdem sei sein Experiment wichtig: „Es stärkt das Standardmodell und schließt alternative Modelle aus.“ Das Standardmodell müsse falsch sein, davon ist Gabrielse weiter überzeugt, „aber wir finden offensichtlich nicht, wo es falsch ist.“

Gabrielse schwärmt auch davon, wie moderat der Aufwand für das Experiment – bei dem sehr kalte Thoriumoxid-Moleküle mit Laserstrahlen beschossen wurden – war: „Das Team bestand nur aus einem Dutzend Forscher, die Apparatur passte in einen Kellerraum in Harvard.“ Beides kann man von den gigantischen Teilchenbeschleunigern, mit denen derzeit nach „neuer Physik“ gesucht wird, nicht behaupten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2018)

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