Nachhaltige Energie trotz Wetterkapriolen

Das University College (UCL) im Herzen Londons gilt als eine der vier Top-Unis Englands.
Das University College (UCL) im Herzen Londons gilt als eine der vier Top-Unis Englands.UCL
  • Drucken

Die Wiener Energieexpertin Marianne Zeyringer erforscht am University College London (UCL) umweltpolitische Fragestellungen und entwickelt Modelle für ein zukunftstaugliches britisches Energiesystem.

„Die meisten Länder verwenden Energiemodelle, um herauszufinden, wie sie ihre Klimaziele erreichen können“, sagt Marianne Zeyringer. Darüber, dass man der globalen Erwärmung entgegenwirken wolle, herrsche ja weitgehend Einigkeit. Nur wie soll man vorgehen, um ein klimafreundliches Stromnetz zu schaffen, das langfristig stabil ist? Wind und Sonne, die einen Gutteil der erneuerbaren Energien liefern, sind vom Wetter abhängig. Und das ist nun einmal nicht immer gleich, weder saisonal noch regional. Infrastrukturen baut man jedoch für Jahrzehnte. Seit fünf Jahren ist Zeyringer Senior Scientist am Energieinstitut des University College London (UCL). Sie und ihre Kollegen berechnen, wie das Energiesystem künftig gestaltet sein sollte, um nachhaltig zu sein und zugleich widrigen Witterungsbedingungen standzuhalten. Dabei arbeiten die Forscher eng mit dem für Energieplanung zuständigen Ministerium zusammen.

Interdisziplinäre Skills

Heuer fiel die Gruppe dadurch auf, dass sie als erste die Auswirkungen jährlicher Wetterschwankungen detailliert in ein Modell einbezog. „In früheren Studien wurden nur einzelne Jahre oder die Durchschnittswerte weniger Jahre betrachtet“, so Zeyringer. „Das Wetter ändert sich aber nicht nur von Stunde zu Stunde, sondern auch von Jahr zu Jahr.“ Berücksichtige man das nicht, könne es passieren, dass man Energiesysteme plane, in denen das Angebot die Nachfrage nicht laufend decken kann.

Die 31-Jährige hat in Wien an der Boku Umwelt- und Bioressourcenmanagement und an der WU Volkswirtschaft studiert. Ihren Master machte sie im Zuge eines gemeinsamen Studiengangs von TU Wien und Diplomatischer Akademie zu Umwelttechnik und internationalen Beziehungen. „Dafür habe ich mit dem IIASA in Kenia untersucht, wie man Strom zu damit noch unversorgten Haushalten bringt.“ Es war eine Initialzündung: „Danach wusste ich, dass ich in der Wissenschaft bleiben will.“ Zunächst hatte sie Praktika bei der UN in New York und bei der EBRD in London gemacht. „Aber die unabhängige Forschung entspricht mir einfach mehr.“

Dass hierarchische Strukturen nicht Zeyringers Sache sind, mag an ihrer Schulzeit liegen: Montessori-Klasse in der Volksschule, später das Wiedner Gymnasium, in dem sich der Schulversuch der Karl-Popper-Schule befindet. Dessen Programm der individuellen Begabungsförderung färbte offensichtlich auch auf die Lehrer des anderen Zweigs ab, den Zeyringer besuchte: „Sie legten großen Wert auf selbstständiges Denken und haben uns viele Möglichkeiten eingeräumt, eigenen Projekten nachzugehen.“ Diesen Freiraum finde sie in der Forschung wieder: „Von der Ausgangsfrage über die Methode bis zur Suche nach Kooperationen kann man sehr eigenständig agieren.“

Studierende als Kunden

So war die Idee zum neuen Energiemodell auf Basis der Analyse vieler Jahre eine Eigeninitiative von ihr und einem Kollegen. „Obwohl das keinem der Konzepte unseres Institutsleiters entsprach, hat er uns den Vertrauensvorschuss gegeben und es uns durchziehen lassen.“ Den vielversprechenden Ansatz wird die Gruppe jetzt in einem Nachfolgeprojekt um Klimawandel-Szenarien erweitern.

Im akademischen England sei man eher locker, sagt Zeyringer. „Es geht weniger um Titel als darum, ob man etwas kann, das gebraucht wird.“ Niemand fand es ungewöhnlich, dass sie ihre Dissertation erst nach dreieinhalbjähriger Anstellung im Vorjahr abschloss. Quasi nebenbei, als Doppeldoktorat von Uni Utrecht und Boku Wien. Das Thema resultiert aus einer dreijährigen Forschungsarbeit zu Energiemodellen am Joint Research Center der Europäischen Kommission in Holland. Der Umzug nach England und das vierjährige Söhnchen Anselm verzögerten die Promotion ein wenig. Ihren Partner, einen schwedischen Physiker, hat Zeyringer in Holland kennengelernt. Er arbeitet nun in einem Medizintechnikunternehmen in Cambridge, seit März komplettiert Sohn Zeno die Familie.

Drei Tage in der Woche pendelt die Forscherin von Cambridge nach London, zwei Tage arbeitet sie von zu Hause aus. Nach sechs Monaten übernahm ihr Partner die Karenz. Den größten Unterschied zum österreichischen Uni-System bemerkt sie als Lehrende: „Weil Studierende hier viel bezahlen, sind sie sehr anspruchsvoll und werden eher als Kunden gesehen.“ Stimmt deren Leistung trotz allen Entgegenkommens nicht, gebe es Konflikte. „Man bemüht sich auch, Studierende aus Nicht-EU-Ländern anzuziehen, die erhöhte Studiengelder einbringen.“

Obwohl Zeyringer ihre Arbeit liebt, vermisst sie privat mehr familiäre Unterstützung. „Ich spiele jeden Tag zehn Minuten Querflöte, um den Kopf freizubekommen, das ist meine einzige Freizeit.“ Darum und auch wegen des Brexits überlegt das Paar, in eines der beiden Heimatländer zurückzugehen. „Persönlich spüre ich hier keine Diskriminierung, aber ich werde mich nicht in derselben Form wie bisher lokalpolitisch engagieren können und die öffentlichen Einsparungen werden sich sicher verstärken.“

ZUR PERSON

Marianne Zeyringer (31) hat von 2005 bis 2010 an der Boku Wien Umwelt- und Bioressourcenmanagement und an der WU Wien Volkswirtschaft studiert. Ihren Master legte sie 2010 in einem gemeinsamen Studiengang von TU Wien und Diplomatischer Akademie zu Umwelttechnologie und internationalen Beziehungen ab. Dann forschte sie drei Jahre für ihre Dissertation am Joint Research Center der Europäischen Kommission in den Niederlanden zu Energiemodellen und promovierte darüber 2017. Seit 2013 forscht sie am Energieinstitut des University College London (UCL).

Das University College London (UCL)mit mehr als 13.000 Mitarbeitern und 38.000 Studierenden zählt laut Rankings zu den vier besten Universitäten Großbritanniens. Historisch war es die erste Uni des Landes, an der sich Frauen inskribieren konnten und die sich als religionsunabhängig betrachtete.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.