Einst kritisierte der Denker Alain Finkielkraut den Begriff der nationalen Identität, heute verteidigt er ihn. Der Sohn eines Auschwitz-Überlebenden wird dafür als Reaktionär, sogar als Rassist geschmäht. Eine Begegnung in Paris.
Fünf Minuten vom Jardin du Luxembourg entfernt, im Quartier Latin, liegt eine schöne alte Welt. Zwischen perfekt geordneten hellen Bücherwänden empfängt in seiner Wohnung einer der bekanntesten französischen Philosophen, Alain Finkielkraut. Hier scheint noch alles seine Ordnung zu haben. Nur draußen geht in Finkielkrauts Augen eine Welt unter. Der 69-Jährige, seit 2014 Mitglied der Académie Française, bangt um Frankreichs kulturelle Identität, sieht sie vor allem durch die Masseneinwanderung gefährdet. Zu seinen Bewunderern gehört Michel Houellebecq, Kritiker werfen ihm reaktionäres Denken vor, bezichtigen ihn sogar der Nähe zu Marine Le Pen und des Rassismus.
Was für ein Imagewechsel! In den 1970er-Jahren gehörte der Sohn polnischer jüdischer Flüchtlinge, ehemaliger 68er-Rebell und Kurzzeit-Maoist, mit André Glucksmann und Bernard-Henri Lévi zu den „nouveaux philosophes“. Sie übten Totalitarismuskritik an der Linken, aus der sie kamen. Finkielkraut verteidigte souverän den Universalismus der Aufklärung einerseits gegen Kulturrelativismus, andererseits gegen den Kult des Kollektivs -in allen Lagern. „Die Presse“ wollte wissen: Was hat Ihr Denken doch wesentlich verändert, Herr Finkielkraut?