Andere Städte, andere Logik

Der Gründer des jüdischen Dokumentationszentrums, Simon Wiesenthal, im Februar 2000 in seinem Büro in Wien.
Der Gründer des jüdischen Dokumentationszentrums, Simon Wiesenthal, im Februar 2000 in seinem Büro in Wien.(c) APA (ROLAND SCHLAGER)
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Das Wiener Wiesenthal-Institut feiert sein zehnjähriges Bestehen. Die hier untergebrachten Dokumente aus dem Nachlass Simon Wiesenthals nutzen Forscher aus aller Welt.

Seine glücklichsten Jahre verbrachte Simon Wiesenthal 1928 bis 1932 in Prag, wo er Architektur studierte und sich zum ersten Mal frei und als Jude nicht bedroht fühlte“, berichtet Jana Starek, die Expertin für die Prager Jahre Simon Wiesenthals am Wiener Simon-Wiesenthal-Institut (VWI). Heute sind die mittel- und osteuropäischen Wurzeln Wiesenthals und vieler anderer jüdischer Opfer des Nationalsozialismus bestimmend für die Arbeit des VWI. Die Projekte konzentrieren sich auf die Erforschung der Geschichte von Antisemitismus, Rassismus, Holocaust und Völkermord.

Im Juni wurde gemeinsam mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eine Tagung zum Thema „Deportiert. Vergleichende Perspektiven auf die Organisation des Wegs in die Vernichtung“ durchgeführt. „Es zeigte sich, dass keineswegs das ,Wiener Modell‘ von Adolf Eichmann im gesamten NS-Herrschaftsbereich angewendet wurde, sondern in anderen Städten andere Logiken galten“, fasst VWI-Direktor Béla Rásky zusammen. Kontrovers diskutiert wurde hier auch die erzwungene Mitwirkung jüdischer Gemeinden an den Deportationen. „Wir müssen dafür neue Begriffe finden“, so Rásky. „Bezeichnungen wie Komplizenschaft oder Mittäterschaft sind hier vollkommen fehl am Platz.“

600 digitalisierte Interviews

Ein anderes Forschungsprojekt, konzipiert von Forschungsleiterin Éva Kovács, beschäftigt sich mit jüdischen Zwangsarbeitern aus Ungarn in Wien in den Jahren 1944/45. Sowohl Wiens städtische Betriebe als auch Privatunternehmen beuteten Zwangsarbeiter aus. Wo genau, zeigt eine digitale Karte, die online verfügbar ist. In einem nächsten Schritt soll die Vor- und Nachgeschichte dieser Menschen dokumentiert werden. Nach Wien wurden im Sommer 1944 – vollkommen außergewöhnlich – ganze Familien deportiert und hier für Zwangsarbeiten eingesetzt. Auf diese relativ kleine Gruppe von Menschen wurde die Forschung erst spät aufmerksam. „Die umfangreiche Oral-History-Sammlung von Yad Vashem in Jerusalem besitzt in erster Linie Interviews mit damaligen Kindern und Jugendlichen. Die wissenschaftliche Auswertung dieser Zwangsarbeiterschicksale wird vollkommen neue Aspekte in die Forschung einbringen“, hofft Rásky.

Digital veröffentlicht werden sukzessive auch 600 lange Interviews, die junge österreichische Freiwillige mit österreichisch-jüdischen Emigranten in den USA und in Israel machen konnten. Das Austrian Heritage Archive stellt sie nach und nach voll transkribiert, verschlagwortet und in Verbindung mit biografischen Zusatzinformationen und Illustrationen zur Verfügung. Philipp Rohrbach, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am VWI beschäftigt ist, entwickelte und kuratiert gemeinsam mit Adina Seeger vom Verein Gedenkdienst das Projekt.

NS-Täter-Akten in Archivboxen

Wichtige Forschungsbeiträge leisten zudem die internationalen Fellows des VWI. Rotierend werden sie von Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirates sowie dem Institut ausgewählt und können ein Jahr lang als Stipendiaten am VWI forschen. Sie haben auch Zugriff auf das Fortunoff Video Archive von Yale, eine audiovisuelle Sammlung mit mehr als 4000 Videointerviews von Überlebenden des Holocaust.

Das VWI nahm nach einem langen und kontroversen Gründungsprozess im Jahr 2009 seine Arbeit auf. In den Räumen des Instituts finden sich mit der Auswandererkartei auch Holocaust-relevante Dokumente der Israelitischen Kultusgemeinde, eine Fachbibliothek mit 14.500 Bänden sowie kleines Museum zum Leben und Wirken Wiesenthals.

Sein berühmtes Archiv mit Material über seine Nachforschungen zu etwa 3000 NS-Verbrechen befindet sich in den ersten beiden Stöcken des VWI. Die NS-Täter-Akten liegen in Archivboxen, sind zum Teil digitalisiert, aber aus datenschutzrechtlichen Gründen online nicht zugänglich. Die Korrespondenz Wiesenthals befindet sich chronologisch sortiert in den Original-Aktenordnern und wird zurzeit im Detail erfasst und so der Forschung noch besser zugänglich gemacht. „Hier finden wir manche alltagsgeschichtlich interessanten Details“, so Rásky und kündigt an, dass der Archivar bald Verstärkung erhalten werde. Die Digitalisierung der Bestände erachte er zwar für wichtig, doch zentral sei vorerst eine detaillierte Bestandsaufnahme und Erfassung. „Ich finde es noch immer am schönsten, die Originalakten in der Hand zu haben“, erklärt der Historiker.

LEXIKON

Simon Wiesenthal, 1908 in Buczacz im ehemaligen Ostgalizien geboren, studierte Architektur in Prag und arbeitete in Lemberg als Architekt. Von 1941 bis Mai 1945 war er in Konzentrationslagern interniert, zuletzt in Mauthausen. Sofort nach dem Krieg begann er mit der Suche nach NS-Tätern, berühmt wurde er nach der Verhaftung Adolf Eichmanns in Argentinien 1960. 2005 starb Wiesenthal in Wien und wurde in Israel beerdigt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2019)

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