Medizingeschichte: Noch viele Leichen im Keller

Noch viele Leichen Keller
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Die Anatomie in Deutschland erinnert sich spät daran, dass sie im Dritten Reich an Menschen geforscht hat, die von der Nazi-Justiz exekutiert wurden. Alte Debatten werden wiederbelebt.

In Wien schoben sie im Dritten Reich Hinrichtungen auf, wenn gerade kein Platz mehr war in der Anatomie bei Professor Pernkopf, in Berlin lieferten sie, auch als Bomben fielen, die Leichen so zeitig am Tag, dass Professor Stieve nach getaner Arbeit die letzte Straßenbahn erreichte: Das Zusammenspiel der Nazis mit Wissenschaftlern kommt wieder einmal hoch, und alte Debatten beleben sich.

Sie sind nicht einfach. Seit es an der Universität Wien eine Anatomie gab, seit 1404, bezog sie ihre Objekte von den Henkern, Gerard van Swieten, der Leibarzt und medizinische Berater Maria Theresias, erweiterte auf verstorbene Arme, deren Begräbnis niemand bezahlen konnte. Denn so viel hingerichtet wurde nicht: Im Deutschen Reich etwa gab es von 1907 bis 1932 kaum 20 Exekutionen im Jahr, so wenige, dass Stieve 1931 in einem Brief klagte, es sei „ungemein schwer, Eierstöcke von wirklich gesunden Mädchen aufzutreiben“. Das – Eierstöcke und Hoden – war Stieves Spezialgebiet, er stand an der Weltspitze, das „Neue Deutschland“, Zentralorgan der SED, widmete ihm 1952 einen ehrenden Nachruf.

Forscher ohne Skrupel

Erst vor zwei Jahren wurden dunkle Flecken bekannt, dunkle, keine braunen, Stieve war kein Nazi. Aber ein Forscher ohne Skrupel: Ihn interessierte etwa, ob der Eisprung immer mit der Regelmäßigkeit kommt, die Knaus/Ogino konstatiert haben – oder ob hoher Stress ihn vorzeitig auslösen kann. In den Zwanzigerjahren testete er das an Hühnern, er stellte neben ihre Käfige einen mit einem Fuchs.

Das brauchte er nicht mehr, als die Nazis das Fallbeil in Schwung brachten – von 1933 bis 1945 wurden in deutschen Gefängnissen 16.000Menschen hingerichtet, vor allem politische Häftlinge oder solche, die Feindsender gehört oder schwarz geschlachtet hatten. Stieve war eine Art Leichenabfuhr für das Gefängnis Berlin Plötzensee, er übernahm alle (nur ein Mal weigerte er sich, bei den Widerständlern vom 20.Juli). Im Gegenzug konnte er Hinrichtungen beeinflussen, das tat er bei Frauen, er sorgte dafür, dass ihr Zyklus aufgezeichnet wurde, er bestimmte mit darüber, wann der Stress kam: die Bekanntgabe des Hinrichtungstermins. Hinterher sezierte er: „Im Anschluss an eine Nachricht, die die Frau sehr stark erregt hatte, trat die Schreckblutung ein.“

Pernkopfs „Atlas“ tabuisieren?

Seither weiß man, wie Stress wirken kann. Darf man Wissen verwenden, das so gewonnen wurde? Oder darf man eine Körperzelle, die der Leipziger Anatom Max Clara an Exekutierten identifiziert hat und die ihm zu Ehren „Clara-Zelle“ heißt, weiter so nennen? Oder kann man den Anatomie-Atlas von Josef Pernkopf, Uni Wien, noch zu Forschung und Lehre verwenden? Dass Pernkopf dunkle Flecken hatte – in seinem Fall auch echte braune, er war Illegaler seit 1933–, ist offiziell, seit eine Senatskommission der Uni Wien 1998 den Fall untersucht hat: Mindestens 1377 Hingerichtete – geköpft in Wien, standrechtlich erschossen in Kagran – kamen zu Pernkopf, er sezierte, drei Zeichner hielten es in bis dahin (und später) unerreichter Detailgenauigkeit fest, Pernkopfs „Atlas“ wurde Standardwerk der Anatomie.

Heutige Ärzte sind uneins, ob man den Atlas tabuisieren soll, oder ob es reicht, bei seiner Verwendung die Entstehungsgeschichte in Erinnerung zu halten. Debattiert werden dieser und andere Fälle auf dem ersten Symposium, das die Deutsche Anatomische Gesellschaft im September zum Thema abhält. (Science, 329, S.274)

ANATOMIE

Das Wort kommt aus dem Griechischen („aufschneiden“), der Arzt Galen begann im zweiten Jh. mit der Analyse des Körperinneren.

Später verbot die Kirche das Sezieren, Leonardo schlich deshalb für seine Studien (ab 1510) bisweilen auf Friedhöfe. Auch Grabräuber belieferten Anatomen.

Traditioneller Lieferant war der Staat bzw. die Justiz. Daran knüpften die Nazis in großem Stil an, Anatomen spielten mit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2010)

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