Latein: Das Englisch des alten Europa

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In Innsbruck hat nun das Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien seine Pforten geöffnet. Es widmet sich einer bislang kaum erforschten Schatzgrube an Texten aus der frühen Neuzeit.

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Latein denken – abgesehen von sechs Fällen und fünf Konjugationstypen, mit denen Sie sich vielleicht in der Schule herumschlagen mussten? Wahrscheinlich kommt Ihnen als eine der ersten Assoziationen das Werk „De bello Gallico“ von Caesar und dann Cicero, Tacitus und Vergil in den Sinn – die Klassiker der Antike.

Latein wird in erster Linie mit antiken Texten in Verbindung gebracht. Doch das ist bei Weitem zu kurz gegriffen, bedenkt man, dass nur 0,01 Prozent (!) aller lateinischen Texte in der Antike verfasst wurden. Der überwiegende Teil, nämlich sage und schreibe 95 Prozent, ist erst nach dem 14. Jahrhundert entstanden – stammt also aus der Zeit des Humanismus und der Renaissance – und wird als neulateinische Literatur bezeichnet.

Umso mehr überrascht es, dass die neulateinische Literatur bislang von der Wissenschaft sträflich vernachlässigt wurde. Das „Seminarium Philologiae Humanisticae“ der katholischen Universität Leuven in Belgien dürfte das bislang einzige Institut weltweit sein, das sich ausschließlich der Erforschung neulateinischer Texte gewidmet hat.

Doch genau das soll sich ändern: Anfang März wurde das Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien in Innsbruck eröffnet (LBI-Neulatein), das die kommenden sieben Jahre neulateinische Texte in seinen Forschungsmittelpunkt stellen wird. Mitgetragen wird die neue Forschungseinrichtung der Ludwig Boltzmann Gesellschaft von der Universität Innsbruck, der Österreichischen Nationalbibliothek, der Universität Freiburg im Breisgau sowie dem Päpstlichen Komitee für Geschichtswissenschaft in Rom.

Neulatein ist dadurch geprägt, dass man sich wieder stärker an den römischen Vorbildern orientierte – zuvor hatte sich das Lateinische im Mittelalter zunehmend vom Original entfernt. „Die neulateinische Literatur ist die am schlechtesten erforschte große Literatur Europas“, so Florian Schaffenrath, Philologe und Mitarbeiter des neuen Instituts. „Sie wird meistens von verwandten Disziplinen wie der Klassischen Philologie oder der Germanistik miterforscht.“ Und das, obwohl die bahnbrechendsten Werke auf Latein verfasst wurden. Man denke nur an die Werke von Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, Descartes oder an Schopenhauer, der noch im Jahr 1830 seine „Theoria colorum physiologica“ auf Latein publiziert hat.

Das neue Ludwig Boltzmann Institut will diesem Forschungsmangel mit seinen 14 Mitarbeitern entgegenwirken und die langjährige Tradition der Universität Innsbruck im Bereich Neulatein fortsetzen und weiter ausbauen.


Latein zur Völkerverständigung. Denn eines steht fest: „Ohne neulateinische Literatur gäbe es das heutige Europa in dieser Form nicht“, ist der klassische Philologe Stefan Tilg, Leiter des neuen Forschungsinstituts, überzeugt. Als Europa sich formierte, war Neulatein dieKommunikationssprache, vergleichbar mit dem Englischen heute. Sie galt als Eintrittskarte in die höhere Gesellschaft und in gewisse Berufsgruppen wie Ärzte und Anwälte. Sie war die überregionale Sprache, die Lingua franca, mit der sich die verschiedenen Völker verständigten. Lange Zeit war sie die Sprache der Diplomatie. „Dies lässt sich hervorragend am Vielvölkerstaat der Habsburger vom 16. bis ins 19. Jahrhundert hinein nachweisen und verfolgen“, so Schaffenrath über eine der drei Forschungsschienen des Instituts.

„Latein war einerseits ein beliebtes Mittel, um einer umfassenden Reichsidentität Ausdruck zu verleihen, und andererseits ein geeignetes Mittel, um seine nationale oder regionale Identität auszudrücken.“ Sowohl die reichseinenden als auch die föderalistischen Strömungen bedienten sich also der lateinischen Sprache. In Ungarn war Latein sogar bis ins Jahr 1848 als offizielle Sprache ausgewiesen. Man lehnte sich damit auch gegen die von Wien propagierte deutsche Sprache auf. Auf die in Wien auf Deutsch erscheinende Zeitung „Mercurius“ reagierte man in Ungarn zum Beispiel mit dem lateinischen „Mercurius Veridicus“. Während ab der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Rest Europas Flugblätter bereits in den einzelnen Volkssprachen verfasst wurden, erschienen die Flugblätter im multiethnischen Habsburgerreich noch immer auf Latein oder bilingual. Ein Kuriosum am Rande: Im Vatikan ist heute noch bei der Sprachauswahl der Bankomaten Latein eine der Auswahlmöglichkeiten.

Mit dem Aufkommen des Nationalismus hat Latein mehr und mehr an Bedeutung verloren. Man wollte sich mit den Nationalsprachen eine eigene Identität verleihen, sodass Latein als Sprache zurückgedrängt wurde. „Es darf jedoch nicht vergessen werden“, betont Schaffenrath, „dass die Volkssprachen durch die Humanisten streng nach den Regeln der lateinischen Sprache grammatikalisiert wurden.“ Ein Punkt, der ebenfalls in die Forschungen des Ludwig Boltzmann Instituts einfließen wird.

Eine zweite Forschungsschiene wird sich mit der Untersuchung des katholischen Schuldramas zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert beschäftigen, das – wie könnte es anders sein – in lateinischer Sprache stattfand. Immerhin prägte es dank seiner sozialen Durchlässigkeit – die Jesuiten haben ja als Erste eine kostenlose Schulbildung angeboten – sowie durch die regelmäßigen öffentlichen Auftritte der Schüler das kulturelle Leben ganzer Städte. „Es war die zeitlich beständigste und geografisch weitreichendste Theaterinstitution Europas“, streicht Stefan Tilg vor allem die Bedeutung des Jesuitendramas während ganzer drei Jahrhunderte hervor (Details siehe Artikel rechts).


Mentalitätsgeschichte. Das Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien wird sich jedoch nicht nur der Politik und der Religion zuwenden, sondern auch einen ganz anderen, vor allem für uns Alpenländer spannenden Blick auf neulateinische Texte werfen – und zwar im Hinblick auf die Mentalitätsgeschichte.

„Wir wollen uns mit dem Aufkommen eines neuen Naturbildes auseinandersetzen“, so der Philologe. Während die Berge im Mittelalter meist mit negativen Emotionen besetzt waren, wurden sie im 18. Jahrhundert in den Rang von Orten des Genusses erhoben, ihre Naturschönheit und ihre Erhabenheit setzten sich gegenüber ihrer Gefährlichkeit durch. „Wir möchten in unseren Studien zeigen, dass dieses naturbezogene Bergbild schon viel früher, nämlich bereits im 16. Jahrhundert in neulateinischen Texten, die bislang daraufhin noch nie rezipiert wurden, beschrieben wird.“

In der neulateinischen Literatur verstecken sich also zahlreiche kulturgeschichtliche Aspekte, die nun endlich ins Forscherinteresse rücken. Die Universität Innsbruck wird in den nächsten sieben Jahren diesem Geburtsvorgang redlich Hilfe leisten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2011)

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