Maos Experiment: Not bringt mehr Mädchen zur Welt

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Beim „Großen Sprung nach vorn", im Herbst 1958, hungerte China drei Jahre lang. 30 Millionen Menschen starben, und das Geschlechtsverhältnis der Neugeborenen verschob sich.


Wenn die Umwelt sich wandelt, müssen Lebewesen sich nicht nur physiologisch anpassen, sondern auch in der „life history", der Gestaltung ihres Lebens. Frauen müssen dann etwa (ganz unbewusst) entscheiden, ob und wann sie Kinder gebären, wie sie sie ausstatten - und welches Geschlecht sie haben. Man weiß von Tierversuchen, dass das Verhältnis der Geschlechter der Jungen sich ändert, wenn während der Tragezeit Mangel herrscht. Dann kommt mehr weiblicher Nachwuchs zur Welt, man erklärt es mit der „adaptive sex ratio adjustment hypothesis", und die hat zwei konkurrierende Versionen. Die eine geht davon aus, dass in guten Zeiten - und nur dann - männlicher Nachwuchs selbst mehr Nachwuchs haben wird und deshalb bevorzugt wird, dass die Enkelgeneration größer wird; die andere setzt darauf, dass weibliche Junge mit weniger Ressourcen auskommen und besser gewappnet sind für schlechte Zeiten.

Hunger durch Hochöfen auf den Dörfern

Man vermutet das Gleiche bei Menschen, kann mit ihnen aber natürlich nicht experimentieren, sondern nur die „Experimente" auswerten, die sie einander selbst antun, etwa im „Holländischen Hungerwinter" 1944/45 oder in der Belagerung Leningrads 1942. In beiden Fällen schnitt die großdeutsche Wehrmacht die Bevölkerung von der Versorgung ab, für sechs bzw. sieben Monate. Aber beide zeigen bezüglich des Geschlechterverhältnisses der Neugeborenen kein klares Bild. Das mag daran liegen, dass die Not relativ kurz und regional beschränkt war. Ein Experiment ganz anderen Maßstabs setzte Mao Zedong in Gang, als er im November 1957 sein Volk zum „Großen Sprung nach vorn" aufrief, in dem die kleinbäuerliche Gesellschaft mit einem Schlag in eine industrialisierte transformiert werden sollte: In den kleinsten Dörfern mussten Mini-Hochöfen gebaut werden, und die Ernten sollten auch explodieren.

Es wurde ein Desaster, im Herbst 1958 kam der Hunger, er dauerte drei Jahre und forderte 30 Millionen Leben. Und er zeigte den Effekt - das Geschlechterverhältnis der Neugeborenen verschob sich zu Gunsten der Mädchen -, aber erst nach über einem halben Jahr, so lange hielten die Reserven der hungernden Schwangeren. Und als die Not zu Ende war, brauchten die Überlebenden ein Jahr zur Erholung, dann war das alte Geschlechterverhältnis wieder da (Proc. Roy. Soc. B, 27. 3.). Wie die Mütter das steuern, konnte Shige Song (Queens College), der die Daten ausgewertet hat, nicht klären, es kann sein, dass sie aktiv Mädchen bevorzugen, es ist aber auch möglich, dass männliche Föten mehr Ressourcen brauchen und in Notzeiten abgehen.

Song konnte auch nicht der Frage nachgehen, ob werdende Mütter in der Not eher in den Nachwuchs investieren oder in das eigene Überleben. Bisher geht man von Letzterem aus, aber zumindest beim Zaunkönig ist es anders, das hat eine Gruppe um Keith Bowers (Illinois State University) experimentell gezeigt: Sie hat Weibchen vor der letzten Eiablage im Jahr in Stress versetzt, mit Lipopolysacchariden, die sitzen für gewöhnlich in Membranen von Bakterien und fordern das Immunsystem stark heraus. Trotzdem reagierten diese Mütter nicht mit Selbstschutz - mehr Ressourcen in das eigene Immunsystem -, sondern sie stärkten den Nachwuchs, geschlechtsspezifisch, die Söhne wurden größer, die Töchter erhielten ein stärkeres Immunsystem. Offenbar wussten die Tiere, dass diese Eiablage (zumindest für dieses Jahr) ihre letzte Reproduktionschance war und setzten alles darauf, ganz wie es die „terminal investment hypothesis" vermutet (Proc. Roy. Soc. B, 27. 3.).

Bedrohtes Leben, frühes Gebären

Ob das bei Menschen auch so ist, weiß man nicht, aber auch sie wollen ihre Chancen nützen: Schon wenn sie heranreifen, modifizieren sie, je nach Umwelt, ihre „life history", etwa den Zeitpunkt des ersten Gebärens: Ihn verlegen Frauen nach vorne, wenn Gefahr für ihr Leben droht. Das hat sich schon im Kleinen gezeigt, etwa in einem Stadtviertel Chicagos mit extrem hoher Gewaltkriminalität. Dort sind Frauen bei ihrer ersten Geburt jünger als in friedlichen Vierteln. Aber der Effekt ist umstritten, David Waynforth (Norwich) hat ihn deshalb an der „1970 British birth cohort study" geprüft. In ihr wurden 17.198 Menschen, die zwischen 5. und 11. April 1970 geboren wurden, alle fünf Jahre auf ihr Befinden untersucht und befragt. Bekannt waren also auch die chronischen Krankheiten. Die nahm Waynforth als Lebensbedrohungen, und er wählte unter ihnen die aus, die das Leben verkürzen, aber die Zeugungschancen nicht beeinträchtigen, Krebs etwa, Diabetes und Epilepsie (nicht in die Analyse aufgenommen wurden etwa Frauen mit Downsyndrom).

Auch dieser Effekt zeigte sich: „Eine erwartbar kürzere Lebensspanne aus Gründen, die außerhalb der Kontrolle des Individuums liegen, führt zu früherer erster Reproduktion", schließt Waynforth (Proc. Roy. Soc. B. 27. 3.). Er vermutet allerdings, dass die Fortschritte der Medizin seit den Siebzigerjahren die Lebenserwartung so erhöht haben, dass der Effekt kleiner geworden ist.

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