Martina Zemp: Im Dialog mit der Kinderseele

Dass sie auch ausgebildete Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ist, liefert Martina Zemp Anregungen für praktisch-relevante Forschungsfragen.
Dass sie auch ausgebildete Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ist, liefert Martina Zemp Anregungen für praktisch-relevante Forschungsfragen.(c) Akos Burg
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Die Psychologin Martina Zemp untersucht familiäre Risiko- und Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung. Seit Kurzem ist sie Professorin an der Universität Wien.

Martina Zemp hat nie daran gezweifelt, dass sie einmal Kinder- und Jugendpsychologin werden würde. „Inspiriert hat mich eindeutig mein Vater", resümiert die Schweizerin aus dem Kanton St. Gallen. „Als Psychotherapeut hat er meinen Schwestern und mir tagtäglich vorgelebt, was man in diesem Beruf bei anderen Menschen bewirken kann und wie viel Erfüllung das einem selbst bringt." Neben dem Psychologiestudium in Zürich begann Zemp eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltens- und Systemische Therapie. Zugleich wuchs ihr Interesse an der Forschung. Sie promovierte, wurde nach einer Postdoc-Phase in Zürich Juniorprofessorin an der Uni Mannheim in Deutschland und schloss schließlich auch die Psychotherapeutinnenausbildung ab. Seit Februar ist sie Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie des Kinder- und Jugendalters in Wien.

Nah an den Familien

„Ich bemühe mich, die Wissenschaft zumindest teilweise mit der Praxis zu kombinieren", erzählt die 33-Jährige. Bereits während des Studiums hat sie ein bis zwei Tage wöchentlich in einer Gemeinschaftspraxis gearbeitet, später in Mannheim in der Hochschulambulanz. „Der Bezug zur Wirklichkeit regt mich nicht zuletzt zu spannenden Forschungsfragen an. Ich erfahre so, was Familien in ihrem Alltag tatsächlich beschäftigt."

Ihr Thema sind psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen sowie im Gegenzug, welche Bedingungen zu einer gesunden Entwicklung beitragen. „Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO weist weltweit eines von fünf Kindern eine emotionale Störung oder Verhaltensauffälligkeit auf." Die Schätzungen für Österreich bewegen sich um die 22 Prozent. „Der aktuelle Stand der Wissenschaft zeigt zudem, dass – insbesondere im jüngeren Kindesalter – das familiäre Umfeld hier den größten Einfluss hat." Die Forschung sei also wichtig, um Fachleuten das nötige Rüstzeug an die Hand zu geben und Familien, in denen das Pendel in eine ungünstige Richtung ausschlägt, wirksame professionelle Hilfe anbieten zu können.

Gerade plant Zemp eine größere Tagebuchstudie mithilfe einer Smartphone-App zu Familien mit Kindern, die an ADHS leiden. Hinter diesen vier Buchstaben steckt die gängige Abkürzung für eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, bei der Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität über das alterstypische Maß hinausgehen. Sie ist eine der häufigsten psychologischen Diagnosen im Kindesalter. „Wir möchten hier die neue Methode des ambulanten Assessments nutzen", sagt Zemp. „Das bedeutet, Daten in der gewohnten Umgebung der Menschen zu erfassen statt in einer künstlich hergestellten experimentellen Situation." So erhalte man realitätsnähere Einblicke.

„Uns interessiert, wie sich Alltagskonflikte auf ADHS-Symptome auswirken. Zusätzlich möchten wir testen, inwiefern Unstimmigkeiten den Schlaf beeinträchtigen und ob dies wiederum Erklärungsmechanismen für die Gemütszustände liefern könnte." Die Schlafqualität der Kinder könne man durch einen Sensor am Handgelenk messen. „Ergebnisse von Projekten wie diesem haben große Bedeutung für die praktische therapeutische Arbeit." Speziell die Vernetzung und Kooperation nationaler und internationaler Forschergruppen würden hier viel vorantreiben.

Auftanken in der Schweizer Heimat

„Hauptberuflich zu lehren und zu forschen empfinde ich als maximale geistige Freiheit und außerordentliches Privileg", unterstreicht Zemp. Nichtsdestotrotz berge die akademische Laufbahn Herausforderungen. „Meine Heimat zu verlassen war für mich ein großer Schritt", meint sie. Anders gehe es aber nicht. Immerhin sei der internationale Wettbewerb der treibende Motor für Spitzenforschung.

Zum Glück ist die Schweiz nicht weit, und so kann die sport- und naturbegeisterte Psychologin regelmäßig dort auftanken. „Zeit mit meiner Familie und Freunden zu verbringen gibt mir Energie."

Zur Person

Martina Zemp (33) hat in Zürich Psychologie, Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters und Pädagogik studiert. 2014 promovierte sie dort am Lehrstuhl für Klinische Psychologie (Kinder/Jugendliche & Paare/Familien). 2016 wurde sie Juniorprofessorin an der Uni Mannheim. Seit Februar ist sie Professorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Uni Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2019)

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