Wort der Woche

Überreste der Nazi-Zeit

In Wien gibt es viel mehr NS-Relikte, als man denkt. Dass diese nicht ganz in Vergessenheit geraten, ist das Verdienst eines Historikers.

Gefragt, welche materiellen Überreste der Nazi-Zeit es in Wien gibt, fallen einem sicher die sechs Flaktürme ein. Manchen wird der riesige Getreidespeicher im Alberner Hafen in den Sinn kommen. Historisch besonders Bewanderte wissen, dass die Maria-Theresien-Kaserne in Schönbrunn als Waffen-SS-Kaserne errichtet wurde. Und jüngere Semester haben vielleicht schon gehört, dass die Stiegl-Ambulanz im Alten AKH in einem früheren Operationsbunker und die Bunkerei im Augarten in einem Luftschutzraum eingerichtet wurden.

Mehr Relikte aus den Jahren 1938–45 werden den meisten aber nicht einfallen. Dabei gibt es unzählige davon! Dass wir das wissen, ist das Verdienst des Archäologen und Historikers Marcello La Speranza: Seit vielen Jahren durchkämmt er Wien und Umgebung, etwa Keller, in deren Schutt er schon viele Nazi-Relikte gefunden hat. Seine Erkenntnisse teilte er der Öffentlichkeit in bisher einem Dutzend allesamt lesenswerten Büchern mit. Eben ist der dritte Band seiner Reihe „NS- und Kriegsspuren in Wien“ mit dem Titel „Dokumentiert“ erschienen (276 S., Edition Mokka, 18,90 €).

Neben großen, unübersehbaren Zeitzeugnissen berichtet La Speranza auch von kleinen. Etwa von unscheinbaren Gittern im Gehsteig in der Weyringergasse, die sich bei näherer Betrachtung als Notausstiege von Luftschutzräumen entpuppen. Oder von heute noch sichtbaren Kriegsschäden an bekannten Gebäuden – etwa von Einschusslöchern in der Fassade des Kunsthistorischen Museums, von kopflosen Heiligen am Stephansdom oder von einer Granate in einer Holztür der Votivkirche.

Ganz am Ende des Buchs weist La Speranza darauf hin, dass sein jahrelanger Kampf gegen das Ignorieren und Vergessen dieser Zeit nun erste Früchte trägt. So wurden kürzlich erstmals in Wien Luftschutzmarkierungen geschützt und mit Erklärungen versehen (Leitgebgasse/Stöbergasse). Überdies habe er zwei private Keller (Weinkeller Villon, Ferdinandihof) gefunden, in denen er Fundstücke aus Luftschutzräumen nun öffentlich präsentieren kann – als Reaktion auf die Tatsache, dass die Epoche 1938–45 in der Museumslandschaft weiterhin stillschweigend ausgeblendet werde.

Lo Speranza bittet übriges alle, die glauben, Relikte aus den Jahren 1938–45 zu kennen, ihn zu kontaktieren. Seine E-mail klio@a1.net drucken wir hier sehr gern ab, damit er uns auch in Zukunft von Fundstücken aus dieser Zeit berichten kann – einer Epoche, die Teil unserer Geschichte ist, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen. ?


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2017)

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