Wort der Woche

Der Fall des Falls

Fensterstürze als perfide Art des Mordes gab es schon immer. Warum die Defenestration so untrennbar mit der Stadt Prag assoziiert wird, ist etwas rätselhaft.

Kommenden Mittwoch jährt sich zum 400. Mal ein Ereignis auf der Prager Burg, das zum Auslöser des Dreißigjährigen Krieges werden sollte: Nach hektischen Debatten, wer denn die Einberufung der Ständeversammlung verboten habe, wurden zwei hohe kaiserliche Beamte und ein Sekretär von aufgebrachten Protestanten aus den Fenstern der Böhmischen Kanzlei in den Burggraben geworfen.

Die Gegner per Defenestration töten zu wollen, ist nicht zufällig passiert, es war „nach altem Gebrauch“ inszeniert – als Anspielung auf Geschehnisse in Prag 200 Jahre früher: 1419 stürmten Anhänger des verbrannten Reformators Jan Hus das Neustädter Rathaus, um gefangene Glaubensgenossen zu befreien. Sie warfen den Bürgermeister und ein Dutzend Beamte aus dem Fenster auf den Karlsplatz, wo eine mit Piken bewaffnete Menge wartete, die den Gefallenen endgültig den Garaus machte.

Es sind keine Hinweise überliefert, warum die Aufständischen ausgerechnet so agiert haben. Einiges ist aber nachvollziehbar. Erstens passt es gut zur Dynamik des Sturms auf eine Ratsstube: Die Eindringlinge kommen durch die Tür und drängen ihre Widersacher auf die andere Seite – in Richtung der Fenster. Zweitens kann man durch Defenestration vermeiden, dass der eigentliche Ort des Verbrechens mit Blut besudelt wird. Und drittens gab es auch Vorbilder dafür: Schon in der Bibel z. B. wurde die Königin Isebel durch einen Fenstersturz getötet (2. Könige 9, 33). 1203 wurde der englische Thronerbe Arthur in Rouen so umgebracht, ebenso 1378 ein Dutzend Patrizier in Leuven oder 1383 Bischof Dom Martinho in Lissabon. Auch später gab es viele Defenestrationen – etwa 1922 jene von Gabriele D'Annunzio oder 1968 jene des Sohns von Deng Xiaoping.

Angesichts dieser reichen Geschichte von Fensterstürzen ist es etwas rätselhaft, warum ausgerechnet Prag damit assoziiert wird. Eine Erklärung könnte sein, dass keine andere Defenestration wie jene anno 1618 propagandistisch so stark ausgeschlachtet wurde – und zwar von beiden Seiten. Der Dreißigjährige Krieg war nicht nur der bis dahin blutigste Krieg, er war auch der erste, der von ausgiebigen Medienkampagnen, v. a. mit Flugblättern, begleitet wurde.

Trotz aller Tragik zeigten die Machthaber damals auch Humor: Der Sekretär Fabricius, der ebenso wie die beiden Beamten den Zweiten Prager Fenstersturz überlebt hatte, wurde später geadelt – er durfte sich fortan „von Hohenfall“ nennen.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2018)

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