Ist Musikalität angeboren?

Ist hohe Musikalität angeboren oder anerzogen? Kanadische Forscher nahmen nun einen neuen Anlauf zur Beantwortung dieser alten Frage – mit einem interessanten Ergebnis.

Warum haben manche Menschen besondere musikalische Fähigkeiten und andere nicht? Ist dafür eine angeborene Begabung hauptverantwortlich? Oder sind Höchstleistungen eher das Ergebnis einer guten Ausbildung und fleißigen Übens? Diese Debatte um Anlage versus Umwelt – im Englischen griffig als „nature vs. nurture“ bezeichnet – wird seit Langem hitzig geführt. Die vielen Studien zum Thema ergeben keine klare Antwort. Sogar vergleichende Untersuchungen an Zwillingen zeigten kein einheitliches Bild.

Psychologen und Musikwissenschaftler der University of Toronto haben nun einen anderen Zugang zur Musikalität versucht, der das Problem elegant umschifft. Sie konzentrieren sich stattdessen auf die „musikalische Kompetenz“, die sie durch die Leistungen bei einem einfachen Test definieren: Den Probanden wurden zwei Abfolgen von Tönen bzw. Rhythmen vorgespielt, sie mussten entscheiden, ob die beiden identisch waren oder ob es Unterschiede gab. Das haben sie bei 84 Studenten getestet – die zudem auf andere psychologische und kognitive Parameter hin überprüft wurden und von denen überdies sozioökonomische Faktoren (etwa Bildung und Einkommen der Eltern) und deren Musikausbildung erhoben wurden.

Die Ergebnisse waren überraschend eindeutig: Die musikalische Kompetenz war bei jenen Studenten höher, die über eine gewisse musikalische Ausbildung verfügten. Aber als noch wichtiger erwies sich die Kombination von drei nicht-musikalischen Faktoren: der Offenheit der Persönlichkeit, der sozioökonomischen Lage und der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit – v. a. nonverbale Intelligenz und Kurzzeitgedächtnis (Scientific Reports, 15. 6.). Noch überraschender war, dass die Intelligenz auch für sich gesehen wichtiger war als eine etwaige musikalische Vorbildung.

Man kann sich jetzt natürlich fragen, ob diese erklärenden Faktoren eher angeboren oder erworben sind. Bei der Intelligenz gibt es eine starke genetische Komponente, ebenso bei der Persönlichkeitsstruktur. Weniger klar ist das hingegen beim sozioökonomischen Status. Wer also aus der Studie der kanadischen Forscher eine Antwort auf das alte Problem gewinnen will, wird erneut enttäuscht.

Für die Praxis ist das freilich nur mäßig relevant: Wer Freude an Musik verspürt, der soll doch bitte musizieren. Und wer seine musikalischen Fähigkeiten verbessern will, dem bleibt nichts anderes übrig als fleißig zu üben.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2018)

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