Der Jordan im Boden

Ein spirituelles Gesamtkunstwerk, gestaltet mit enormer Empathie für den Genius Loci und viel Liebe zum Detail: der Kirchenumbau in Lingenau im Bregenzer Wald.

Warum man ausgerechnet nach Lingenau wolle, fragt der Chauffeur des Landbusses die als Nicht-Einheimische identifizierte Passagierin. Dort sei nun wirklich nichts los. Ach so, der neue Kirchenumbau – ja, das sei das einzig Interessante. Damit hat er insofern unrecht, als dank bemerkenswerter Brückenbauten die Gemeinde im Bregenzer Wald durchaus kein weißer Flecken auf der architekturhistorischen Landkarte ist. Die 1969 eröffnete, vom Grazer Bauingenieur Franz Aigner geplante Stahlbeton-Bogenbrücke über die Bregenzerach war einst die siebtgrößte Brücke dieser Bauart weltweit und beeindruckt heute noch mit unaufgeregter Eleganz. Schon in den Dreißigerjahren des Jahrhunderts davor plante der – übrigens wieAigner – aus Südtirol gebürtige und als Planer des Suezkanals berühmte Alois Negrelli die Gschwendtobelbrücke über die Subersach, eine gedeckte Holzbrücke mit sechsfach verstärktem Hängesprengwerk.

Zugereist sind auch die Architekten des Kirchenumbaus. Mit Ernst Beneder und AnjaFischer hat ein Büro aus Wien den 2008 ausgelobten geladenen Wettbewerb gewonnen. Mittlerweile sind Beneder und Fischer im Ländle gut bekannt. Über die gesamte Bauzeit bezogen sie Quartier in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche, hielten engen Kontakt zu den Mitgliedern der Pfarrgemeinde, recherchierten vor Ort lokale Handwerkstraditionen und lebten mit jenen Menschen, die sich fortan mit der neu gestalteten Kirche identifizieren sollten.

Die neoromanische Pfarrkirche wurde 1868–1871 nach Plänen des Tiroler Architekten Anton Geppert errichtet, nachdem die ursprüngliche gotische Kirche aus dem 15. Jahrhundert einem Dorfbrand zum Opfer gefallen war. Ein Umbau aus den 1960er-Jahren nach Plänen von Norbert Ender vergrößerte die Kirche und verlieh ihr mit einzelnen künstlerisch gestalteten Elementen wie den farbigen Kirchenfenstern (Konrad Honold), den Emporenbrüstungen (Lothar Märk) und diversen Metallarbeiten (Wilhelm Veit) das Gepräge der Zeit. Die räumliche Organisation folgte mit einer theatralischen Stufenanlage im Chor hingegen nach wie vor einer Hierarchie, in der kirchliche Erneuerungsbestrebungen noch keinen Niederschlag gefunden haben.

Neben längst fälligen baulichen Reparaturen war daher die Inadäquatheit als zeitgemäßer liturgischer Raum Anlass für die Neugestaltung. „Jetzt hat man das Gefühl, es steht der ganze Kirchenraum zur Verfügung und es gibt keine Grenzen, die man nicht überschreiten darf“, stellt eine Kirchenbesucherin fest und trifft damit den Kern des Eingriffs von Beneder und Fischer, der darauf abzielt, einen Großraum zu schaffen, der für mehrere Szenarien tauglich ist.

Den mehrfach abgetreppten Chorraum verliehen sie ein einheitliches Niveau ähnlich der Situation vor dem Umbau 1963. In jeder den Saalraum trennenden Maßnahme – zum Beispiel in Form einer Werktagskapelle – sahen die Architekten keine Verbesserung. Daher nutzten sie die liturgischen Möbel als Raumbildner und arrangierten sie so, dass der Kirchenraum der kleinen Andacht ebenso wie dem festlichen Hochamt das passende Ambiente bietet. Der Altar wurde aus dem Chorraum näher zum Volk in den vorderen Bereich des Langhauses auf ein leicht erhöhtes, Chorraum und Langhaus miteinander verzahnendes Podest verlegt. Die vorhandene Kirchenbestuhlung wurde weiterverwendet und teils neu arrangiert, sodass um den Altarbereich eine zentralraumähnliche Situation entstand. Altar und Ambo erlauben durch ihren monolithischen Charakter auf quadratischem Grundriss die Nutzung in alle Richtungen.

Etliche Interventionen wie die Entfernungeiner der beiden Emporen sowie einer Emporentreppe oder neu geschaffener Stauraumhinter steinbelegten Paneelen oder transluzentem Glas erweisen sich als praktisch unddienen der Wirkung des Gesamtraumes. Die bestehende Sakristei im Anschluss an den Chor ersetzt als Ausspracheraum die Beichtstühle. Eine neue Sakristei schmiegt sich als flacher Anbau außen an den Turm und die Nordseite des Langhauses. Neben den pragmatischen Optimierungen galt das Augenmerk der Inszenierung der liturgischen Orte,eine Aufgabe, die Beneder und Fischer nicht wie meist üblich an bildende Künstler delegierten, sondern im Sinn eines spirituellen Gesamtkunstwerkes mit enormer Empathie für den Genius Loci, viel Liebe zum Detail und einer reichen Symbolik, die sich vor allem auf Johannes den Täufer, den Schutzpatron der Kirche, bezieht, als Teil ihrer Architektenkompetenz betrachteten.

Ausgehend von den beiden bestehenden Fenstern in der Apsis, in denen Alpha und Omega dargestellt sind, spannten sie einen Erzählbogen von Johannes' Taufe am Jordan, symbolisiert im Taufbrunnen, aus dem das Wasser, über Kaskaden fließend, entleert werden kann, um dann den Wurzeln des dahinter angeordneten Olivenbaums, der auf die Vegetation am Jordan hinweist und Spender des in der Taufe verwendeten Chrisamöls ist, zugeführt zu werden. Ein rauer Muschelkalkstreifen im Boden symbolisiert den Jordan, der begleitende hellere Streifen die Wüste und das fruchtbare Land. Vierzehn Kreuzwegstationen bespielen die gesamte Raumhöhe mit im Boden eingelassenen Schriftstreifen und darüber von einer raffinierten Metallkonstruktion mit integriertem Licht abgehängten dünnen Seidentüchern, in denen in römischen Ziffern die Nummern der Stationen eingefilzt sind. Die Bildwelt zu diesem abstrakten Kreuzweg liefern die an der Südwand der Apsis dicht gehängten alten Kreuzwegbilder. Zwölf um einen zentralen Block angeordnete, aus der Region stammende Steine bilden den Altar, deren vier den Ambo. Auch der Tabernakel mit dem hinter rotem Glas integrierten ewigen Licht und nach vorne und hinten auskragenden Flächen zum Abstellen der Monstranz ist aus massiven Steinquadern gefügt.

Planung ist das eine: Ob die Steinarbeiten, der Opferkerzenständer mit integriertem Behälter für Kerzennachschub, Zündhölzer und abgebrannte Kerzen oder die aus übrig gebliebenem Kirchengestühl neu angefertigten Sedilien – Beneder und Fischer haben sämtliches Mobiliar mit Akribie durchgestaltet. Ausführung ist das andere: Die Pfarre als kooperativer und verständiger Auftraggeber, das unterstützende Engagement der Dorfgemeinschaft und lokale Betriebe, die ihre handwerkliche Kompetenz einbrachten, trugen symbiotisch bei. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2011)

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