Eine Frau, ein Netzwerk

Vor ihren Umarmungen war so gut wie niemand sicher. Das Verbindende war ihr Element. Die Biografie Deborah Holmes' über Eugenie Schwarzwald breitet ein spannendes Stück Kulturgeschichte aus.

Ihre Feuilletons erschienen in der „Neuen Freien Presse“, obwohl ihre Ideen von sozialdemokratischen Politikern aufgegriffen und umgesetzt wurden. Ihr Frauenbild war traditionell, aber sie ermöglichte Mädchen höhere Bildung und legte die Basis, damit Frauen auch Jus studieren konnten. In den von ihr gegründeten Gemeinschaftsküchen während des Ersten Weltkriegs gab es weiße Tischdecken und Blumen. Als die Russische Revolution siegte, hielt sie in ihrer Schule eine kurze Ansprache und gab den Schülerinnen zur Feier des Tages schulfrei.

Eugenie Schwarzwald ist der leibhaftige Widerspruch in Person, sie verstand es nicht nur, unterschiedliche Positionen in sich zu vereinen, sondern auch, konträre Personen an ihren Tisch zu bringen, wie etwa den Anführer der Roten Garde, Egon Erwin Kisch, und den verhassten Generalobersten, Karl Freiherr von Pflanzer-Baltin, die sich sonst nie getroffen hätten. Das Verbindende ist schwer zu definieren, sicherlich ein Humanismus und eine gehörige Menschenliebe, beides bis zur entwaffnenden Naivität. Verehrung und Ablehnung verstellen gleichermaßen den Blick auf ihre Persönlichkeit. Dass eine realistische Einschätzung zu Lebzeiten schwer möglich war, verwundert nicht, denn sie versuchte, jedwede Gegensätze durch überschwängliches Loben zu versöhnen, und vor ihren Umarmungen war so gut wie niemand sicher.

Deborah Holmes, die an der German School of European Culture and Languages der University of Kent lehrt, hat sich der Biografie von Eugenie Schwarzwald (1872–1940) angenommen: „Langeweile ist Gift“ – ein spannendes Stück Kulturgeschichte Österreichs von der Jahrhundertwende bis 1938. Sich an dieses Leben beschreibend zu wagen ist trotz bedeutender Vorarbeiten noch immer ein Wagnis, denn Frau Dr. Genia Schwarzwald war „gewiss eine Personnage, sozusagen ein Genie des Da-Seins“, wie es Manes Sperber formuliert hatte. Und sie verstand es, ihren Namen als Marke zu verwenden, Bescheidenheit war nicht ihr Leitspruch. Für viele war sie bloß die „Fraudoktor“, als noch die wenigsten wussten, was „Corporate Identity“ ist.

Die Themenbereiche, die in ihrer Biografie eine Rolle spielen, sind unter anderem jüdische Identität versus Assimilation: Dies ist im Wandel zwischen den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts bis 1938 ein mehr als unüberblickbares Feld, dazu kommt die gesellschaftliche Rolle der Frauen, das Studium in Zürich, der Salon, die (jüdische) Wohlfahrt, während und nach dem Ersten Weltkrieg, die Frauenrechtsbewegung. Darüber hinaus sind die Beziehungen zu einer Reihe von Persönlichkeiten wie Adolf Loos, Peter Altenberg, Robert Musil, Oskar Kokoschka, Arnold Schönberg, Egon Friedell und nicht zuletzt Karin Michaelis im Blick zu halten. Mit der Geschichte ihres Mannes, Hermann („Hemme“), spielt auch die Wirtschafts- und Finanzgeschichte Österreichs hinein. Allein die Frage der literarischen Darstellung von Eugenie Schwarzwald – von Karl Kraus' „Die letzten Tage der Menschheit“ über den „Mann ohne Eigenschaften“ bis hin zu Weinhebers Roman „Das Waisenhaus“ – gibt Stoff für ein ganzes Buch. Gibt es andere Persönlichkeiten, die es zu annähernd so vielen Erwähnungen in literarischen Werken wie „Fraudoktor“ gebracht haben? Bei ihr geht es darum, Erwähnungen – nicht immer schmeichelhafte – zu zählen, während Prominente heute bereits über „Clippings“ froh sind.

Das Leben der Eugenie Schwarzwald, geborene Nußbaum, umfasste jedoch noch mehr, denn es begann in den polnischen Wäldern am 4.Juli1872 und endete im Schweizer Exil am 7.August1940, womit auch die letzten Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts in den Kronländern und das Exil noch zu berücksichtigen sind. Eine Biografie ist wie der Blick einer Forscherin durch ein Fernglas, die Person wird vom sicheren Sitz der Wissenschaft aus verfolgt; das Objekt der Begierde im Fokus, kann zuweilen die Stellung der zu beschreibenden Person überdimensional erscheinen. Eugenie Schwarzwald hätte dieser Beschreibung für sich sicherlich mit Wohlwollen zugestimmt, wäre sie durch den Begriff der Kraftquelle, die sie war, zusätzlich umschrieben worden.

Zu den spannendsten Kapiteln der neuen Biografie gehören sicherlich die Analyse der Kindheit und Jugend in Galizien und die Studienzeit in Zürich. Schwarzwald hat alle jüdischen Elemente in ihren Erzählungen über ihre Jugend weggelassen, und sie ist mit ihrer Vergangenheit in durchaus kreativer Weise umgegangen. Über Schulzeugnisse und verstreute Notizen und über ihre Geschwister zeichnet Deborah Holmes ein konturiertes Bild einer assimilierten jüdischen Familie. Die Hochzeit wird nach jüdischem Brauch gefeiert, der Bruder ändert seinen Namen, alles in allem weit davon entfernt, Czernowitz zum Gegenstand nostalgischer Mythenbildung werden zu lassen. Mit Akribie skizziert Holmes das Umfeld in Zürich, der ersten Stadt Europas, wo Frauen studieren konnten, auch Rosa Luxemburg studierte da einige Jahre vor Eugenie.

Diesem Leben gerecht zu werden ist eine Aufgabe, an der schier zu verzweifeln ist, da in vielen Themenbereichen noch immer Grundlagenforschung betrieben werden muss. Dieses vielfältige Geflecht so präzise zu schildern macht dieses Buch zu einem Grundlagenwerk. Dass viele Fragen offen bleiben müssen (Arisierung und Rückstellung sind dabei nur ein kleiner Bereich), liegt in der Natur der Sache. Da Schwarzwald nahezu alle im Bereich des öffentlichen Lebens der 1920er- und 1930er-Jahre gekannt hat, wird auch in Zukunft Ausschau zu halten sein, nach neuen Enden ihres Netzwerks, die sicherlich noch auftauchen werden. Bleibt am Schluss die Frage, ob es nur eine Eugenie Schwarzwald in Österreich und ob es Schwarzwalds auch in anderen Ländern gegeben hat. Oder war sie möglicherweise ein österreichisches Unikat?

Was war ihre Wirkung, und was war Inszenierung? Am Schluss scheint Debora Holmes die Luft auszugehen: Es fehlt ein bilanzierendes Kapitel, in dem auch die bisherigen Leerstellen zu thematisieren gewesen wären. Wenn es eines Beweises bedarf, wie viel ein Mensch in Gang bringen kann, dann mag dafür Eugenie Schwarzwald herhalten. Die Ablehnung, die sie erfahren hat, ist möglicherweise eine Reaktion der Bequemen und Angepassten. Neben den vielen nicht gestellten Fragen ist auch jene, welche Wirkung eine Person haben kann, zu stellen. Wer Schülerinnen von ihr getroffen hat, muss wohl zugeben, dass von keiner Schule jemals ein so geschlossenes und einhelliges Lob zu hören war. ■



Deborah Holmes
Langeweile ist Gift

Das Leben der Eugenie Schwarzwald. 360 S., geb.,
€28,90 (Residenz Verlag,
St. Pölten)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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