Die Verlierer

Peking, 4. Juni 1989: Wer waren die „Rowdys“, jene Zigtausende meist jungen Menschen, die sich mit den Studentenprotesten solidarisch zeigten? Liao Yiwu lässt 15 Beteiligte von damals zu Wort kommen: „Die Kugel und das Opium“.

Und wieder wurden tagelang Reden geschwungen, Phrasen gedroschen – und von emsigen jungen Damen die Teetassen der Delegierten nachgeschenkt. Der 18. Parteitag der chinesischen Kommunisten, der diese Woche zu Ende ging, gehorchte all den alten roten Ritualen. Freilich, mehr als bei früheren Parteitagen war vom Kampf gegen Korruption und Misswirtschaft die Rede, von Maßnahmen gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, von notwendigen Schritten gegen die Umweltverschmutzung. Ja, und die Parteiführung wurde ausgewechselt. Aber sonst?

Wie ist das wirklich mit der Gerechtigkeit im kommunistischen China, mit Millionen armer Bauern, mit dem menschlichen Strandgut in den Städten, mit denen, die – vielfach ohne eigenes Verschulden oder nur weil sie auf ihrer Individualität bestehen – unter die knirschenden Räder der gigantischen Repressionsmaschine geraten sind? Wie ist es mit Wiedergutmachung für das vom kommunistischen Staat den Menschen angetane Leid? Kein Thema! Doch es gibt sie, die Chinesen, die diese Themen immer wieder anschneiden – der Schriftsteller Liao Yiwu aus Sichuan ist einer von ihnen.

Vor seiner Flucht nach Deutschland 2011nach jahrzehntelangen Schikanen durch die Staatssicherheit – ein vierjähriger Gefängnisaufenthalt inklusive – durchstreifte Liao Yiwu wie ein Aufseher mit Nachtsichtgerät die dunklen Seiten der chinesischen Gesellschaft. Er sah, was dort dahinvegetieren muss. Die kommunistischen Machthaber sind stolz auf die Glitzerfassaden der Städte, weniger gern zeigen sie die zerlumpten Menschenmassen her, die sich durch verschmutzte Seitengassen wälzen.

„Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ war ein Ergebnis der Streifzüge Liao Yiwus. Es ist 1999 auf Deutsch erschienen und machte ihn beim deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Vergangenes Jahr erschien sein schonungsloser Gefängnisbericht „Für ein Lied und hundert Lieder“. Der Geschwister-Scholl-Preis und der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sind verdiente Auszeichnungen für sein außergewöhnliches literarisches Schaffen.

Diesen Herbst erschien auf Deutsch auch sein drittes Buch, in dem der Literat die Ereignisse am Pekinger Platz des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 aufarbeitet. Wieder hat Hans Peter Hoffmann aus dem Chinesischen übersetzt – er hat ganz gewiss beträchtlichen Anteil am Erfolg Liao Yiwus bei der deutschsprachigen Leserschaft, weil er Ton und Sprachrhythmus des Chinesen so wunderbar trifft.

„Die Kugel und das Opium“ schließt an „Fräulein Hallo“ an, im Stil ist es wieder eine literarisch bearbeitete Interviewsammlung. Auch steht erneut der menschliche Bodensatz im Mittelpunkt. In diesem Buch sind es die „Rowdys“ des 4. Juni 1989. Das sind jene Zehntausenden überwiegend jungen Menschen, die sich damals am Platz des Himmlischen Friedens mit den Studenten solidarisierten, die Korruption und Misswirtschaft anprangerten und mehr Demokratie forderten. Viele dieser jungen Leute, so wird aus den Interviews klar, waren damals gar nicht besonders politisch. Sie schlugen sich erst auf die Seite der Demonstranten, als sie erlebten, mit welcher Brutalität eine wild gewordene Soldateska mit Billigung von oben gegen Zivilisten vorging. Wut auf beiden Seiten der Barrikaden war eine Triebfeder der damaligen Ereignisse.

Die politischen Hintergründe und Entscheidungsprozesse der mit Dumdumgeschossen gestoppten und Panzern niedergewalzten Demokratiebewegung kommen in dem Buch nicht vor. Nur die Verachtung für Deng Xiaoping und Li Peng, die die Soldaten damals in Marsch gesetzt haben, klingt wiederholt durch. Es geht um die „Rowdys“, die die volle Härte der kommunistischen Rachejustiz zu spüren bekamen, während sich etliche der damaligen Studentenführern ins Ausland absetzen konnten. Wu Wenjan, heute ein Maler, dem die Erinnerung an das Massaker den Pinsel führt, und der 1989 als 19-Jähriger als „Rowdy“ zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, sagt erbittert: „Das waren doch alles ganz normale Bürger aus Beijing, die hatten ihre Stärken und Schwächen, sie waren empört, haben spontan etwas getan. Ein paar Steine geworfen, ein paar Flaschen, einen Korb; sie haben sich einem Konvoi in den Weg gestellt, Reden gehalten, die Luken der Panzer aufgestemmt – aber nur aus dem einen Grund: dass die Truppen nicht in der Stadt einrücken und die Studenten umbringen.“

Freilich, die bisherige Geschichtsschreibung des 4. Juni erwähnte meist nur die demonstrierenden Studenten – die Massen, die wochenlang ihren Kampf unterstützen, bekamen so gut wie keine Beachtung. Liao Yiwuändert das mit den 15 Interviews (davon eines mit sich selbst) in diesem Buch: Eine umfassende Geschichte des tragischen chinesischen Sommers 1989 wird künftig ohne ausführliche Berücksichtigung der „Rowdys“ nicht mehr auskommen.

Zumal viele der „Rowdys“ in mehrfacherHinsicht die Verlierer des damaligen Geschehens sind: Es scheint klar, dass kommunistische Agenten damals Demonstranten bewusst zu Provokationen gegen die in die Stadt einrückenden Soldaten anstachelten, um der Armee so einen Vorwand für ihr rücksichtsloses Vorgehen zu liefern. Viele, die in diese Falle gingen, wurden später von der Justiz des Regimes zum Tode oder zu langfristigen Haftstrafen verurteilt. Nach der jahrelangen Quälerei in den Gefängnissen durch Wärter und kriminelle Mitgefangene kamen die „Rowdys“ in ein völlig verändertes China zurück, in dem sie sich überhaupt nicht mehr zurechtfanden.

Denn es ist den Kommunisten mit ihrem erbarmungslosen Schlag am 4. Juni 1989 tatsächlich gelungen, der chinesischen Gesellschaft ihre „Flausen“ über Demokratie und Freiheit auszutreiben. Seit damals respektive seit der Reise Deng Xiaopings in den Süden 1992 zählt nur mehr eines: Geld verdienen – so rasch und so viel und so rücksichtslos wie möglich.

Im Anhang des Buches finden sich noch kurze Beschreibungen von 202 Todesopfern des Massakers von 1989 (insgesamt dürfte die Opferzahl bis zu 3000 betragen) sowie von 49 Verwundeten. Ganz besonders grauenvoll wirkt dabei der Tod von Unbeteiligten, die gerade auf dem Balkon eine Zigarette geraucht haben, die kurz am Küchenfenster gestanden sind, die Medikamente für kranke Verwandte holen wollten oder die sich auf einer Dienstreise in Peking befunden haben. Das alles schreit nach Rehabilitierung der Opfer. Beim 18. Parteitag hat man wieder nichts davon gehört. ■

Liao Yiwu
Die Kugel und das Opium

Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. 432S., geb., €25,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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