Mischa blickt weit zurück

„Zehntelbrüder“: Ruth Cerha beschreibt eine Patchwork-Welt. Ruth Cerhas zweiter Roman ist keine schwere Kost und schwingt sich dennoch behände über die Seichtigkeit des Genres.

Die Beziehung des 24-jährigen Mischa wackelt. Seine Freundin will ihn nach zwei Jahren endlich ihren Eltern vorstellen, und er versucht, sich davor drücken, weil er befürchtet, über Dinge befragt zu werden, die er selbst nicht so genau erklären kann: etwa über seine beruflichen Perspektiven. Oder seine Familienverhältnisse – diese nämlich können mit dem Begriff „Patchwork“ nur unzureichend umrissen werden.

Ruth Cerhas zweiter Roman ist keine schwere Kost und schwingt sich dennoch behände über die Seichtigkeit des Genres. Das liegt schon daran, dass er nicht gequält witzig mit einem Missgeschick beginnt (Hundebiss, verbranntes Essen, Ketchup auf der Bluse), sondern die Handlung im Horizont des Weltgeschehens lokalisiert. „Es war in diesem verrückten Jahr, als der Orkan Kyrill über Europa hinwegfegte.“

Dergleichen war bei US-amerikanischen Erzählern wie John Steinbeck, Toni Morrison, Tom Wolfe, Philip Roth sowieso, aber auch bei Jeffrey Eugenides fast Standard, bevor die serielle Produktion von Familienklischees mit fluktuierendem Partner-, Kleider- und Jobwechsel in beliebigen Shoppingoasen vor allem eines markierte: universelle Austauschbarkeit. Und genau hier setzt Cerha inhaltlich und in gewisser Weise auch ideologisch an. Denn im Bezugssystem dieser erweiterten Familie – Mischa wurde überwiegend von der Ex des Ex seiner Mutter aufgezogen – ist niemand austauschbar.

Nicht verwandt und doch Familie

Ruth Cerha zielt explizit auf das Bild eines verbindlichen Netzwerks jenseits institutioneller, genetischer oder ideologischer Gefüge ab, wenn sich der fünfjährige Max und Mischa darauf einigen, dass sie zwar nicht verwandt sind, aber beide „zur Familie“ gehören. Die Perspektive des Ich-Erzählers Mischa gibt Cerha Gelegenheit, die Vorgeschichte der Handlung durchaus wertend aufzurollen. Wenn seine Freundin resigniert meint, dass er vielleicht einfach zu jung für sie sei, resümiert er die Situationen seines Lebens, für die er eigentlich zu jung war, angefangen vom Gehenlernen in einer Wirtshausküche.

Letztlich nutzt Mischa die Zeit des Abstands zu seiner Freundin Hannah, der noch nicht als Trennung definiert ist, um sich über Wunsch und Wirklichkeit der Beziehungsgefüge in seinem Leben klar zu werden. Dass es dabei auch zu einer schrägen Affäre kommt, scheint dem Konstruktionsprinzip eines zweiten Handlungsstranges geschuldet, denn die Beschreibung der Affäre bleibt, im Gegensatz zu jener des Familiennetzes, plotlastig. Das heißt, während man in Bezug auf Mischas Affäre interessiert ist, wie es weiter- oder ausgeht, interessiert an seinem Familiengefüge, wie es überhaupt geht. Das erzeugt mehr Spannung, einem Krimi vergleichbar, bei dem Täter und Opfer schon zu Beginn feststehen und erzählend das Wie, Woher und Warum aufgedeckt werden.

Stilistisch dient der Einzug bestimmter Textzeilen zwar in erster Linie der Markierung direkter Reden, aber hin und wieder setzt er auch Handlungen oder Gedanken in kompositorischer Weise vom Fließtext ab und erzeugt so einen bestechenden Rhythmus. Das mag daher rühren, dass die jüngere Tochter des österreichischen Komponisten Friedrich Cerha Klavier, Violine und Tonsatz studiert und schon selbst komponiert hat. ■





Ruth Cerha
Zehntelbrüder

Roman. 352 S., geb., € 18,99 (Eichborn Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2012)

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