Das Alter der Seele

„Wenn Moma ,das Studentenheim‘ sagte, dann so, als würde sie ,das angebliche Studentenheim‘ sagen. Was sie damit meinte, war leicht zu erraten: dass meine Mutter eine Lügnerin war. Das hatte ich mir immer schon gedacht.“ Aus dem neuen Roman.

Am 5. März 1953, wenige Tage nach meinem vierten Geburtstag, starb nach zwei Schlaganfällen: Josif Stalin. Erst gab es wieder Gerüchte, Ärzte seien schuld an seinem Tod, und wieder wurden ein paar Dutzend, die meisten Juden, festgenommen, auch Ärzte außerhalb der Sowjetunion.

Mein Großvater saß im Gefängnis; das war durchaus ein Alibi, wenngleich nicht unbedingt ein gutes, denn es waren schon Menschen des Mordes angeklagt worden, die zum Zeitpunkt der Tat längst nicht mehr gelebt hatten. Er hatte Glück – wenn man das sagen darf –, die Anklage gegen ihn wurde von einem Tag auf den anderen fallen gelassen, und er kam frei. Das Ganze sei ein Versehen gewesen. Mátyás Rákosi sei nie an der Gallenblase operiert worden. Major György Hajós und Oberst Miklós Bakonyi, die für meinen Großvater zuständigen Offiziere der ÁVH, taten nun, als wären sie in Wahrheit immer seine Freunde gewesen, die ihn in einer schlimmen Zeit vor Schlimmerem bewahrt hätten – das solle er bitte nicht vergessen. Der Weltgeist sei grausam, aber gerecht, das habe sich wieder einmal bestätigt. Das Gute habe gesiegt. Das Böse werde auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Sie schlugen meinem Großvater auf die Schultern – sanfter, als sie es vor wenigen Wochen getan hatten – und scherzten, ihnen persönlich tue es leid, dass er Mátyás Rákosi nicht tatsächlich vergiftet habe. Mátyás Rákosi war inzwischen selbst in Ungnade gefallen, und man durfte getrost damit rechnen, dass er, wahrscheinlich gemeinsam mit Gábor Péter, dem ebenfalls abgesetzten Chef der ÁVH, der für alle diese bösen Sachen verantwortlich sei, recht bald erschossen würde.

Nun wohnten wir alle zusammen in der geräumigen Wohnung Nummer 7 an der Báthory utca Nummer 23 – Opa, Moma, meine Mutter und ich. Deswegen hatte es übrigens einen lauten Streit zwischen meiner Mutter und Moma gegeben.Meine Mutter wollte erst nicht zu uns kommen und wieder in ihrem Kinderzimmer schlafen. Moma aber bestand darauf, dass sie aus dem Studentenheim ausziehe. Wenn Moma „das Studentenheim“ sagte, dann so, als würde sie „das angebliche Studentenheim“ sagen. Was sie damit meinte, war leicht zu erraten: dass meine Mutter eine Lügnerin war. Das hatte ich mir immer schon gedacht. Jedes Mal, wenn sie gekommen war, um mich zu besuchen, hatte sie mir „etwas überaus Merkwürdiges“ erzählt, das ihr zugestoßen sei. Das Leben ist voller Möglichkeiten, und ein kleiner Spaziergang von der Donau herauf, am Szabadság tér vorbei und in die Báthory utca muss nicht, aber könnte solches bieten. Ich entdeckte sehr früh die Möglichkeitsform.

Schließlich hatten Moma und ich aber doch den Eindruck gewonnen, dass meine Mutter gern bei uns wohnte. Eines Morgens sah ich sie vor dem großen Spiegel im Badezimmer stehen, nackt, die Arme ausgebreitet, den Kopf nach hinten gebeugt; sie hatte die Augen geschlossen und lächelte, als ob sie sich dennoch im Spiegel sähe. Sie war zufrieden mit sich selbst. Ich erzählte Moma, was ich beobachtet hatte, und wurde dafür gelobt.

Wir lebten nicht schlecht. Major Hajós und Oberst Bakonyi kamen vorbei, um sich von Großvater ein Schreiben unterzeichnen zu lassen, und brachten bei dieser Gelegenheit Speck, Wurst, Kaffee, Wein, Barack und andere gute Sachen mit, eine Gans und ein Käserad, einen Schinken, so groß wie ein Tennisschläger, und für Moma eine Tasche voll Zigarettenschachteln. Gleich dreimal mussten sie die Stiege hinauf- und hinuntergehen. Wenn sie sonst etwas für uns tun könnten, baten sie, müssten wir nur ein Wort sagen. Moma lachte – ich habe es gehört und habe mitgelacht – und sagte, es gebe, wenn sie sich nicht irre, drei Männer in ihrem Verein, einen gewissen Janko Kollár, einen gewissen Lajos Szánthó und einen gewissen Zsolt Dankó, ob es möglich wäre, jedem von den dreien eine Kugel in den Kopf zu schießen. Die Offiziere lachten – ich habe es gehört und habe mitgelacht – und versprachen, sie würden schauen, was sich machen lässt. Mir schenkten sie ein buntes Windrädchen und setzten mich auf die Kühlerhaube ihres schwarzen Pobeda und fuhren mit mir ein Stück die Báthory utca hinunter bis zum Parlament, schnell genug, damit sich die kleinen roten, blauen und gelben Schaufeln drehten, vorbei an der Bäckerei von Ferenc Juhász, der in seiner weißen Schürze auf dem Gehsteig stand und staunte. Meine Mutter lief schreiend daneben her, gab aber bald auf, weil ihr die Luft ausging.

Es war eine gemütliche Zeit. Wir saßen im Salon zusammen, die Betten von Moma und Opa hatten wir in einer lustigen Aktion aus dem Schlafzimmer herübertransportiert, weil Opa nur mit Mühe aufstehen und herumgehen konnte. Er trank Unmengen Wasser. Es waren ihm im Gefängnis nur versalzene Speisen angeboten worden. Der große Durst blieb ihm bis an sein Lebensende. Man stelle sich vor, Opa war verwechselt worden! Man hatte geglaubt, er sei ein Jude! Das erzählte uns Major Hajós und entschuldigte sich dafür in aller Form und mit seltenen Nahrungsmitteln. Er lebte allein, hatte keine eigene Familie, mit seinem Bruder war er verfeindet; er sei oft sehr, sehr einsam, klagte er; deshalb besuchte er uns zwei- bis dreimal in der Woche, setzte sich immer auf denselben Sessel, als wäre er ein Freund des Hauses. Von den Kollegen werde er der „Marder“ genannt – „Nyest“; er verriet uns aber nicht, wie er zu diesem Spitznamen gekommen war. Ein Marder sei doch ein sehr schönes Tier, die Menschen müssten ihn nur einmal von der Nähe betrachten, was in der Natur zugegebenermaßen nicht ganz leicht sei, aber es gebe ja auch ausgestopfte Exemplare, zum Beispiel im Museum am Ludovika Platz. Man habe, erzählte er, eigentlich Dr. Benedikt Lázló, den Chefarzt des Krankenhauses der Pester Israelitischen Glaubensgemeinschaft, verhaften wollen, aber weil das andere Kollegen bereits getan hätten und es unerfreulich gewesen wäre, mit leeren Händen dazustehen, sei der Genosse Oberstleutnant János Tárnoki von der HA Technik auf die Idee gekommen, in der Semmelweisklinik nachzusehen, dort sei gemäß seinen Unterlagen ein gewisser Dr. Daniel Eisenberger als Internist beschäftigt, und nachdem der Verräter Gábor Péter von Geburt her auch ein Eisenbergersei, und zwar ein Benjamin, habe man gedacht, es könnte sich bei dem Arzt zum Beispiel um einen Bruder desselben und also wahrscheinlich um ebenfalls einen amerikanisch-zionistischen Agenten handeln. Leider hätten sich die Genossen Kollár, Szánthó und Dankó, die, wie wieder einmal bestätigt, nicht die Zuverlässigsten seien, im OP geirrt und aus Versehen den völlig unschuldigen und in jeder Hinsicht korrekten Genossen Dr. Ernö Fülöp verhaftet. Mein Großvater wollte sagen, dass er höflichst darum bitte, nicht Genosse genannt zu werden; er kam aber nicht dazu, jedenfalls nicht zu Ende damit, denn Moma fiel ihm um den Hals und küsste ihn so leidenschaftlich auf den Mund, dass sich Major Hajós glücklich seufzend umdrehte und meiner Mutter und mir zuzwinkerte. „Wir sprechen nicht über Politik“, sagte Moma, „wir kümmern uns nicht um den Zustand der Welt.“

Es war auch eine fröhliche Zeit. Wir verließen nur selten die Wohnung, das war auch nicht nötig, denn wir waren ja reichlich mit leckeren Dingen versorgt. Wir lachten viel, meine Mutter probierte Kleider an, und Opa schnarchte seine komischen Melodien. Er war zu müde, um mir am Abend eine ganze Geschichte zu erzählen, und deshalb musste manchmal Moma seine Märchenstunde zu Ende bringen – nun umgekehrt wie sonst. Der Großwesir war krank, und er bat den Kalifen, vorübergehend seine Aufgabe zu übernehmen. Das Erzählen war nicht Momas Sache, jedenfalls nicht das Erzählen von Märchen für Kinder, aber sie bemühte sich. In ihren Geschichten ging es um Götter mit Tierköpfen, und das erinnerte mich an meine einsamen vier Nächte, in denen mir Wesen erschienen waren, wie ich nie welche gesehen hatte, nicht in Wirklichkeit und nicht auf Bildern. Die aufgestickten Tiere auf meiner Zudecke hatten nach ihnen gerufen, und sie waren gekommen; und nun, so schien mir, riefen sie wieder, und vielleicht spürte Moma, dass sie riefen, und es war ihr unheimlich, weil sie ja nicht wusste, wer da rief. Ihr Widerwille, an meinem Bett zu sitzen, hatte also gar nichts mit mir zu tun, ihre Ungeduld galt nicht mir, sondern meiner Bettdecke mit den Tieren darauf. Ich ärgerte mich über meine Mutter, weil sie mich gefunden und mir dadurch die Möglichkeit genommen hatte, mich mit diesen Tiermenschen näher zu befassen. In der ersten Nacht waren sie an mir vorübergezogen, als wäre ich eine Galerie von Kopfkissen, deren Knöpfe zur Straße gerichtet waren. In der zweiten Nacht waren sie vor mir stehen geblieben und hatten mich betrachtet. In der dritten Nacht war ich lange wach gelegen und hatte mir gewünscht, sie würden mit mir sprechen. Das taten sie auch, aber ich verstand ihre Sprache nicht. Ich war aber zuversichtlich gewesen, dass ich eines Nachts würde sprechen können wie sie oder dass ich in der Wohnung vielleicht Tabletten fände, die mich wie den Kalifen und seinen Großwesir in die Lage versetzten, die Sprache der Tiere zu verstehen. Bei ihrem vierten Besuch ließen sie sich im Halbkreis vor mir nieder. Nach meiner Rettung hatte ich nicht mehr von ihnen geträumt – lange nicht mehr, aber dann wieder.

Ich erzählte Moma von meinen Träumen, und da weinte sie und versprach mir, sie werde es niemandem weitersagen, und drückte mich fest an ihre Brust. Sie verbat Opa, mir in Zukunft seine Märchen zu erzählen – was mich wunderte, es waren ja schließlich ihre Märchen, die er nur an mich weitergab, weil sie selbst zu vornehm dazu war. Außerdem hat sie den Bettüberzug mit den aufgestickten Tieren im Ofen verbrannt. Damit hatte ich gerechnet, fand es aber keine gute Idee. Nicht dass mir die Frösche, die Rehlein und Spatzen, Meister Petz und Meister Lampe, Grimbart, Reineke, Isegrim, Abebar, der Storch, und Nobel, der Löwe, leidgetan hätten; ich habe nie mit ihnen gesprochen, nie haben sie sich im Kreis um mich herumgesetzt. Aber es schien mir wahrscheinlich, dass sie es gewesen waren, die meine Tiere gerufen oder angelockt hatten. Und als dann einige Nächte vergangen waren, ohne dass mich auch nur eines meiner Tiere am Schlafanzug gezupft hätte, war ich überzeugt, Moma hatte tatsächlich einen Fehler begangen.

Viel wurde in dieser Zeit auch über den toten Josif Stalin geredet und über Männer, die er gekannt hatte und die ebenfalls nicht mehr lebten. Ich prägte mir die Namen ein, wie ich mir die Namen der ägyptischen Götter eingeprägt hatte – Namen habe ich immer verehrt, Namen sind Zauberformeln, man kann sie im Mund drehen wie ein Bonbon und vor sich hin murmeln, während die Haare auf dem Kopf wachsen und die Hände etwas anderes tun. Major Hajós, Moma und mein Großvater sprachen diese Namen zudem aus, als gäbe es ein Geheimnis um sie, das gefiel mir – Nikolai Bucharin, Karl Radek, Lawrenti Beria, Lew Kamenew, Alexei Rykow, Genrich Jagoda, Wladimir Iwanow und Leo Trotzki –, ein Geheimnis eben, wie es um meine Tiere eines gab; wobei ich nicht genau hätte sagen können, worin dieses Geheimnis bestand. Ich war doppelt böse auf meine Mutter; wäre sie nur einen Tag später gekommen, bestimmt hätten mir meine Tiere ihre Namen verraten, und ich hätte sie frei rufen können, wann immer mir danach gewesen wäre, und hätte dafür nicht eine Zudecke nötig gehabt.

Wissen Sie, ich bin nun mehr als fünfundfünfzig Jahre von jener Zeit entfernt; aber wie ich damals empfand, ist mir frisch,und ich empfinde heute nicht anders. Meister Eckhart hat gepredigt, die Seele werde nicht alt. Darüber habe ich erst vor wenigen Tagen wieder nachgedacht. Es könnte meinen: erstens, dass sie jung stirbt; zweitens, dass sie sich – anders als der Körper – nicht in der Zeit und mit der Zeit bewegt; drittens, dass sie ihr einmal gesetztes Alter beibehält, gleich, ob der Körper dieses Alter bereits erreicht hat oder schon darüber hinausgewachsen ist. Dass die Seele jung stirbt, dafür spricht einiges; tatsächlich erscheinen mir die meisten Erwachsenen als seelenlose Wesen, selten aber Jugendliche, nie Kinder. Die zweite Interpretation kommt Eckharts Intention wahrscheinlich am nächsten; er war ja der Meinung (und wurde derentwegen von der Inquisition verfolgt), dass „etwas“ in der Seele sei, das „unerschaffen und unerschaffbar“ ist, also auch nicht von dem Gott erschaffen, also aus sich selbst heraus göttlich und somit aus der Zeit gehoben, ohne Alter, ewig. Die dritte Deutung ist meine eigene. Jeder frage sich, welches Alter – Menschenalter! – seine Seele habe (ob es so etwas wie eine Seele überhaupt gibt, braucht dabei nicht beantwortet zu werden; auch wenn es sie nicht gibt, kann sie immer noch als Denkmodell dienen – was sie für den Psychologen ja tut). Meine Seele ist zwischen vier und sieben Jahre alt, und so alt wird sie bleiben bis an mein Ende. Alles, was ich erlebt habe, bekommt Sinn und Form, wenn ich es aus den Augen des Vier-, Fünf-, Sechs-, Siebenjährigen betrachte und von dessen weltanschaulicher Warte aus analysiere. ■

KÖHLMEIER: Zur Person

Geboren 1949 in Hard am Bodensee.Studierte Germanistik, Politologie, Mathematik. Lebt als freier Autor in Hohenems und Wien. Romane, Hörspiele, Drehbücher, Liedtexte, Nacherzählungen antiker Mythenstoffe und biblischer Geschichten. Österreichischer Würdigungspreis für Literatur, Hebel-, Sperber-, Wildgans-, Grimmelshausen-Preis.

Bücher: u. a. „Telemach“, „Das große Sagenbuch des klassischen Altertums“ (Piper), zuletzt die Romane „Abendland“ und „Madalyn“ (Hanser).

Sein Text stammt aus dem Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“, der Ende Jänner bei Hanser herauskommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2013)

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