Ein Amerikaner in Frankfurt

Von Daniel Defoe bis Paula Fox: Jonathan Franzen legt mit dem Essayband „Weiter weg“ seine Poetikvorlesungen vor.

Wie macht sie oder er das? Eine Frage, die Schriftsteller beschäftigt, wenn sie Literatur lesen. Sind sie von der Art und Weise fasziniert, wie eine Kollegin oder ein Kollege die Story erzählt, dann gehen sie ihrem Beruf nach und schreiben das auf. Was dabei herauskommt, nennt sich Poetik-Vorlesung. Die berühmtesten im deutschsprachigen Raum sind jene an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, die 1959 mit Ingeborg Bachmann als Dozentin begonnen wurden. Die wichtigsten Dichter deutscher Zunge haben dort seither „gelesen“. Die Lektüre solcher Texte war in schwarz-weißen analogen Vorzeiten die beste Schreibschule.

Leider werden wir Jonathan Franzen in Frankfurt nicht hören können, weil dort nur deutschsprachige Autoren Vorlesungen halten. Macht aber nichts: Seine Essays zur Literatur sind nun unter dem Titel „Weiter weg“ auf Deutsch erschienen. Die Spur der von ihm darin vorgestellten Lektüren zeichnet einen weiten Weg. Er führt von Daniel Defoe über Fjodor M. Dostojewski, Christina Stead, James Purdy, Sloan Wilson, Paula Fox, Alice Munro bis Maj Sjöwall und immer wieder treffen wir auf David Foster Wallace. Mit diesem war Franzen befreundet, weshalb die Anmerkungen zu ihm weit über literaturkritische Notizen hinausgehen: „Davids Literatur ist von Heuchlern, Manipulatoren und emotional Isolierten bevölkert, und doch nahmen die Menschen, die nur flüchtigen oder förmlichen Kontakt mit ihm hatten, seine ziemlich bemühte Hyperfreundlichkeit für bare Münze.“ Solcherart erfahren wir nicht nur etwas über den Menschen David Foster Wallace, sondern erhalten auch Einblick in die Wechselbeziehung zwischen dem Autor und seinem Werk.

Dass es in der Literatur keine Eindeutigkeit gibt, ist in dem berührenden Nachruf auf den Freund eine der zentralen Botschaften von Franzens Poetik. Bei der Lektüre von „Infinite Jest“ („Unendlicher Spaß“) fällt ihm auf: „Auf der mikroskopischen Ebene war David ein penibler und präziser Interpunkteur von Prosa. Auf der globalen schuf er tausend Seiten Weltklasse-Spaß, der immer weniger lustig wurde, bis man am Ende des Buches meinte, der Titel hätte ebenso gut ,Unendliche Traurigkeit‘ lauten können.“ In der titelgebenden Reflexion, in der Franzen die Entwicklung des Romans vom 18. Jahrhundert bis zur heutigen „Saturiertheit in Sachen Unterhaltung“ nachzeichnet, vergleicht er Davids Ausmaß an Selbstzerfleischung mit jenem von Kafka, Kierkegaard und Dostojewski.

Schreiben ist für Franzen eine Methode, sich mit den Schwierigkeiten und Paradoxien des eigenen Lebens zu beschäftigen. Insofern ist jede Literatur autobiografisch, wenn auch nicht in dem Sinne, dass Kafka etwa in ein Ungeziefer verwandelt worden wäre. Sein Werk erwuchs „aus der nächtlichen Traumwelt in Kafkas Hirn“ und ist damit „autobiografischer als jede realistische Nacherzählung seiner Erfahrungen“.

Und dann kann man auch ein „Interview mit New York (State)“ machen. Autobiografisch im engeren Sinn sind Franzens Reiseberichte, von denen ein Großteil seiner Vogelliebhaberei geschuldet sind. Im Nordosten Zyperns entdeckt er etwa Leimruten, auf denen die nach Süden ziehenden Vögel qualvoll verenden. Nicht besser bestellt ist damit auf Malta oder in Norditalien, wo man in Restaurants als Spezialität gern „Pulenta e osei“ (Polenta mit kleinen Vögeln) anbietet. Dass die zypriotische Jagdlobby die Interessen von 50.000 Jägern vertritt, kann einen Amerikaner schon auf die Idee bringen, dass es in Europa ebensolche Mordwerkzeug-Lobbys wie die NRA (National Rifle Associaton) in den USA gibt.

So kommt Jonathan Franzen von der Literatur zum Leben und vom Leben wieder zurück zur Literatur. Bei der Lektüre des Romans „Was am Ende bleibt“ von Paula Fox merkt er zuletzt an, dass gute Literatur stets tragisch ist, „weil sie sich den simplen Antworten der Ideologie, den Heilsversprechen einer therapeutischen Kultur oder den angenehm erlösenden Träumen der Unterhaltungsindustrie verweigert“. In Frankfurt hätte er dafür heftigen Applaus bekommen. Europäischer – um nicht zu sagen deutscher – hätte seine Poetik nicht ausfallen können. ■


Jonathan Franzen
Weiter weg

Essays. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell, Wieland Freund, Dirk van Gunsteren, Eike Schönfeld. 366 S., geb., € 20, 60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2013)

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