Dämonen, Vampire, Untote

Schwarz, nicht zuckerlrosa war die Romantik. Blut, Schmerz und Lust finden sich in Simone Stölzels Zusammenschau romantischer Literatur häufiger als schmachten- de Liebe. Ihre „Nachtmeerfahrten“ zeigen die dunkle Dichtung als Vorläuferin heutiger Fantasy- und Science-Fiction-Literatur. Vom verdrängten Erbe der Romantik.

Die Romantik war nicht sentimental, ja sie war nicht einmal romantisch. Was uns heute als romantisch angeboten wird,etwa ein Wochenende im Wellnesshotel mit Candle-Light-Dinner, ist nicht einmal mehr eine Karikatur. Der Kern der Romantik war schwarz wie die Nacht. Darin feierten all die Schattengestalten, Ungeheuer und Dämonen, die die Aufklärung ausgeleuchtet und damit ausgetrieben zu haben vermeinte, ihre keineswegs nur fröhlichen Urständ. Die menschlichen Abgründe und Seelenfinsternisse, die Zustände geistiger Verwirrung und Verzweiflung ließen sich mit positivistischen Erklärungen nicht bannen. Das Abseitige im Menschen war allein durch chemische und physikalische Vorgänge nicht zu entzaubern. Darauf warf erst Sigmund Freud das Licht der Wissenschaft. Die Nachtseiten des Gemüts, die etwas anderes sind als die moderne Depression oder gar das postmoderne Burn-out, repräsentieren, wie die Kulturwissenschaftlerin Simone Stölzel im Vorwort zu ihrem Buch über „die dunkle Seite der Romantik“ betont, als Unergründliches das elementar Menschliche.

In der Unterwelt der Seele spielt Eros eine entscheidende Rolle. In der klassischen Antike wurde er deshalb auch als Jüngling mit Peitsche oder Netz dargestellt und nicht – wie später – als putziges geflügeltes Kleinkind. Gerade vom Eros brachte die romantische Poesie Seiten an den Tag, die davor kaum je ans Licht der literarischen Öffentlichkeit gelangt waren. „Hinüber wall ich, / Und jede Pein / Wird einst ein Stachel / Der Wollust sein“, las man etwa bei Novalis. Das entspricht so gar nicht den Rosamunde-Pilcher-Schmonzetten, mit denen man heute die romantische Liebe assoziiert. Tatsächlich ist die Verbindung von Liebe und Tod, Blut, Schmerz und Lust sehr viel romantischer als Ausritte zu zweit in nebelige, hügelige grüne Landschaften.

Eine lesbische SM-Beziehung

„Meine tiefe Demütigung genießend, lebe ich in deinem warmen Leben, und du wirst in mein Leben hineinsterben – süß sterben.“ Das sagt eine der urromantischen Figuren, nämlich Carmilla, in Joseph Sheridan Le Fanus gleichnamigem Roman zu Laura, ihrem „Opfer“. Carmilla ist, wie Stölzel angibt, die reinste Verkörperung der genießenden Sadistin, ebenso wie Laura die reinste Verkörperung des Opfers. Eine lesbische SM-Beziehung – wer hätte das unter romantisch eingereiht? Wenn Carmilla von der Wonne der Grausamkeit spricht, die doch nichts als Liebe ist, dann war das gesellschaftspolitisch viel fortschrittlicher und literarisch viel ausgereifter als das Gesäusel von Christian und Anastasia in den „Fifty Shades of Grey“. Warum sich die Trilogie der Britin E. L. James trotzdem weltweit über 70 Millionen Mal verkauft hat, während der Ire Le Fanu längst vergessen ist (sofern man je von ihm wusste), hat wohl damit zu tun, dass die schwarzromantische Geschichte konkrete (sexuelle) Details bewusst auslässt, um der Leserin Raum für Fantasie zu lassen. Die Angstlust wird darin lediglich durch die Empfindungen der Handelnden reflektiert.

Sadomasochistischer Sex in Greys Schattenwelt wird hingegen, wie die Soziologin Eva Illouz analysiert, als ein Weg gezeigt, „sehr traditionelle Geschlechteridentitäten zu festigen – allerdings unter dem Regenschirm sexueller Lust“. Das Epitheton ornans Duftkerzenprosa schmückt deshalb James' SM-Trilogie viel besser als die Liebesromane der schwarzen Romantik. Das Unheimliche und Unauslotbare in diesen Geschichten zeigte, wie Stölzel schreibt, „die unschönen, morbiden, abgründigen Seiten des Menschen, seine Ängste und Obsessionen, seine seelischen Nöte und Abwege“. Den Erfolg der „Shades of Grey“ schreibt Eva Illouz dagegen der Tatsache zu, dass BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) in unserer bindungsfernen Welt eine Möglichkeit zu mehr Sicherheit darstellt, eine (Liebes-)Form, die das Bedürfnis nach Eigenständigkeit mit jenem nach Kontrolle verbindet. Statt programmierter kontrollierte Unterwerfung. Aber Unterwerfung muss es schon sein. Und irgendwann ist nicht mehr klar, wer wen beherrscht: der Täter das Opfer oder das Opfer den Täter.

Dieses Täter-Opfer-Schema in Liebesdingen ist in den romantischen Vampirgeschichten bereits vorgebildet. Vampire stellen eine Unterart von Dämonen dar, denen man ausgeliefert ist und die etwas von einem wollen. Als Archetyp einer solchen Figur könnte „Die liebende Tote“ von Théophile Gautier gelten. In dieser 1819 veröffentlichten Geschichte erscheint einem jungen Mann unmittelbar vor der Priesterweihe eine geheimnisvolle Gestalt und verspricht ihm die Liebe, wenn er seiner Berufung entsagt. Unter heftigsten Seelenqualen widersteht er der Versuchung, wird aber eines Nachts an das Totenbett einer jungen Frau gerufen, in der er die Geheimnisvolle wiedererkennt. Mit einem Kuss auf die Lippen erweckt er sie zum Leben: „Ich kann dich von nun an immer sehen und zu dir kommen“, sagt Clarimonde, so der Name der Untoten, zu ihm. Damit beginnt seine Doppelexistenz, in der zwischen Wirklichkeit und Traum nicht mehr zu unterscheiden ist.

Selbst als er entdeckt, dass Clarimonde eine vampirische Existenz führt, hält er sie nicht für einen blutsaugenden Unhold, sondern für ein liebendes Wesen aus einer anderen Welt. Er wünscht sich, „dass mit seinem Blut auch seine Liebe sie ganz und gar durchdringen möge“. Wem fällt dabei nicht die Twilight-Trilogie ein? Doch anders als Stephenie Meyer enthält die in Form einer Beichte erzählte Geschichte Gautiers weder melodramatisch verkitschte Gefühle noch wird alles auserzählt. Gautier lässt vieles in Schwebe, spielt subtil mit Elementen des schwarzromantischen Genres, die im Retro-Zeitalter in einer Art kultureller Schwundstufe als Farce wiederkehren.

Versatzstücke schwarzromantischer Literatur hat bereits Bram Stoker in seinen „Dracula“ (1897) aufgenommen. Er transferiert die nach Blut und Liebe lechzenden Untoten der romantischen Literatur in eine quasihistorische Figur. Aus dem Walachenfürsten Vlad Draculea, der als „der Pfähler“ in die Geschichte einging, wird Drakul, das heißt Teufel. Erst Stoker amalgiert „die metaphorische Blutgier eines grausamen Heerführers mit dem wortwörtlichen Blutdurst eines untoten Albtraumgeschöpfs“, notiert Simone Stölzel, und verschafft so dem ehemals anonymen Geschlecht der Vampire eine Genealogie. Während die Schwarzromantiker den Vampirismus als mythischen Akt beschrieben haben, führt ihn Stoker solcherart in einen Naturalismus über. Aber so wie Nacktheit unerotischer ist als gekonntes Verhüllen, so ist Stokers Dracula letztlich prüder als seine Vorbilder.

Überhaupt steht der Roman laut Stölzel bereits im Zeichen des symbolistischen Eklektizismus der Moderne, „hier christlich-volkstümlicher Abwehrzauber, dort wissenschaftliche Methoden zur Erforschung unerklärlicher Phänomene; hier atmosphärischdichte Schilderungen finsterer Visionen, dortdas mystifizierende Geraune einer selbst ernannten Führergestalt, die sich von Gott berufen wähnt“. Verirrte Seelen auf der Suche nach Erlösung, das sind die eigentlichen romantischen Gestalten. Gern auch in der Form von „bösen Meistern“, die sich mittels Wissenschaft über Gott erheben. Auch „Dracula“ trägt Züge eines solchen „bösen Meisters“, der andere Menschen beherrschen undlenken will. „Die Vermischung von Mystik, Magie und Technik, von Wahnsinn und Methode, erwächst aus der elementaren Verunsicherung des ,modernen‘ Menschen“, so Stölzel. Je lächerlicher die Rationalisten das „Geistersehen“ machen und auf die Austreibung des Heiligen Geistes hinarbeiten, umso zahlreicher bevölkern Fantasie- und Heiligengestalten die Kunst. Das erklärt auch die überragenden Erfolge von literarischen Figuren wie den Hobbits oder – bis hinauf ins 21. Jahrhundert – Harry Potter. In J. K. Rowlings Romanzyklus spielt der böse Magier der Romantik wieder eine bedeutende Rolle.

Frankenstein als Schöpfergott

Mit der Figur des „bösen Meisters“ reagierten die Romantiker auf die Auflösung traditioneller (religiöser) Überzeugungen und der damit einhergehenden Verlorenheit des Menschen in einer unüberschaubarer werdenden Welt. Dass Wissenschaftler ihren Forscherdrang keineswegs immer der Humanität unterordnen, sondern durchaus von Ehrgeiz erfüllt sein können, Schöpfergott spielen zu wollen, zeigt ihr literarischer Urahn „Frankenstein or The Modern Prometheus“ (1818). Mary Shelleys in der Kunst vielfach adaptiertes und wenig gelesenes Urbild des Hexenmeisters erscheint als Personifikation menschlicher Hybris. Wobei es der politisch aktiven Autorin weniger um dieTragödie des Wissenschaftlers als um jene seines Geschöpfes, des Monsters, ging.

Anfangs fühlt sich, ganz im Sinne von Rousseaus „edlem Wilden“, der künstliche Mensch nämlich zum Guten hingezogen. Erst als er erfahren muss, wie abweisend und undankbar die Menschen sind, wird er böse. Laut Simone Stölzel fließen demnach zwei Tendenzen in Shelleys Roman ein, die die romantische Literatur entscheidend geprägt haben: die Rousseau'sche Ansicht von der „natürlichen Gutmütigkeit“ des Menschen sowie „der elementare Zweifel an der menschlichen Vernunft“, der zu einer „Kritik an einem vom Machbarkeitswahn befeuerten Forschereifer“ führt.

Es ist eben nicht nur so, wie Francisco de Goya auf seinem 43. Capricho veranschaulicht hat, dass der Traum der Vernunft Ungeheuer gebiert, sondern auch der Verstand, wenn er von seinen Idealen träumt, gebiert Ungeheuer, wie Bazon Brock sagt. Das ist die Lehre, die die Romantiker aus der Französischen Revolution zogen. Damit wird plausibel, wieso die Romantik als Vorläuferin der Fantasy- und Science-Fiction-Literatur bis in unsere Zeit wirksam ist. All die Monster, Ungeheuer, Gespenster, Elfen, Riesen, Werwölfe und Krieger, die sich heute auf dem Bildschirm, auf der Leinwand oder immer noch auf Papier tummeln, sind romantischen Ursprungs. Zudem waren die Romantiker auch ästhetisch progressiv, indem sie die formale Strenge der Klassik aufgebrochen und mit experimentellen Eigenarten, etwa der Verschlingung von Rahmen- und Binnenhandlung, den Weg in die Moderne gewiesen haben.

An der Oberfläche scheint es, als wäre die romantische Welt unserer heutigen maximal entfernt, weshalb wir sie als kitschig abtun. Tatsächlich zeigt gerade die Kunst, dass es in unserem Unbewussten sehr romantisch brodelt. Schon Joseph von Eichendorff warnt etwa vor dem „unbeherrschten Eros (Sexus), dem Narzissmus und der in ihr eigenes Dunkel Versunkenen“. Das anschaulich gemacht zu haben, ist eines der großen Verdienste von Simone Stölzels Buch. Sie hat einige Motivkomplexe der romantischen Literatur herausgearbeitet und mit Textbeispielen unterfüttert. Damit zeigt sie in ihrem sehr aufgeklärten Buch, dass die Romantiker eine intellektuelle Jugendbewegung bildeten, die direkt auf die Erfordernisse der Nach-Revolutionszeit reagierte.

Passend zum Gegenstand ist der in dunkelrotes Leinen gehüllte Band zweifärbig gesetzt. Kleiner Wermutstropfen in dem sonst überaus konzinn gemachten Buch: Dass die Illustrationen schwarz-weiß gedruckt sind, nimmt ihnen etwas von ihrer Aussagekraft. ■

Simone Stölzel

Nachtmeerfahrten

Die dunkle Seite der Romantik. 350S., Ln., €37 (Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2013)

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