Sein und Unzeit

Seit der Edition der „Schwarzen Hefte“ Martin Heideggers macht der Begriff des „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ die Runde. Ist das Denken des Philosophen im innersten Kern vergiftet, ist er ein „Gedankenverbrecher“? Oder liegen seine Begriffe jetzt gerade auf der geistigen Schlachtplatte? Versuch zwischen den Fronten.

Bevor ich meine Doktorarbeit zu schreiben begann, führte ich ein Dissertationsgespräch – es war das erste und letzte – mit meinem Mentor Ernst Topitsch. Damals war er mir wohlgesinnt, denn in seinen Seminaren produzierte ich mich als Kritiker der sogenannten Frankfurter Schule, namentlich eines ihrer Schulhäupter, Theodor W. Adorno. Adorno hatte, zusammen mit Max Horkheimer, bald nach dem Zweiten Weltkrieg, 1947, die endgültige Fassung der späterhin berühmten „Dialektik der Aufklärung“ publiziert – ein rotes Tuch für geradlinig Liberale, die trotz allem an Vernunft und Fortschritt glaubten. Konzipiert wurde das Werk der beiden Autoren noch im amerikanischen Exil.

Ernst Topitsch, an der Wiener Universität habilitiert und dort 1956 mit einer außerordentlichen Professur betraut, war 1962 einem Ruf nach Heidelberg gefolgt. Der beherzte Ideologiekritiker galt wegen seines international erfolgreichen Buches „Vom Ursprung und Ende der Metaphysik“ (1958) als geistiger Erbe des Wiener Kreises – einer lockeren Zusammenkunft von Wissenschaftlern, die das Credo der Aufklärung unter dem Titel „Logischer Empirismus“ kultivierten, bis viele von ihnen vor dem Austrofaschismus flohen. Während im Wiener Nachkriegsklima Topitsch vom katholischen Hegelianismus wenig angetan war, wurde er in Deutschland bald zum Angriffsziel der Studentenbewegung. Deren geistige und politische Helden fertigte Topitsch als Repräsentanten eines heilsgeschichtlichen Denkens ab, das ursprünglich in christlicher Mythologie wurzelte.

Demnach hätten sich Hegel und Marx „selbstvergottet“, indem sie als Künder der letzten Etappe des Menschen auf dem Weg zum absoluten Geist, zur Aufhebung jedweder Entfremdung, Ausbeutung und Existenznot in Erscheinung traten. Mit dieser Auffassung geriet Topitsch ins Visier der rebellischen Intelligenz, der „Achtundsechziger“, die vor Verhöhnung nicht zurückschreckten, Diskussion als Waffe einsetzten und sich dabei gern auf Horkheimer und Adorno beriefen. Diese zogen ihrerseits gegen den „Neopositivismus“ vom Leder, aus dem sich die Wissenschaftstheorie, samt der Frage nach dem Sinn philosophischen Redens, entwickelte. Zusätzlich kompliziert wurden die geistigen Nachkriegsfrontlinien durch Martin Heidegger. Nach 1945 gewann der berühmte Autor von „Sein und Zeit“ (1927), trotz seiner temporären Begeisterung für Hitler und dessen „Bewegung“, rasch an Einfluss. Bald strahlte sein Ruhmesstern womöglich heller als vor dem Holocaust, über den sich Heidegger bis auf einige kaltschnäuzige Sätze, die erst Jahrzehnte später bekannt wurden, ausschwieg.

Von Adorno wird berichtet, er sei nach der Rückkehr aus der Emigration der Meinung gewesen, Heidegger binnen kurzer Zeit publizistisch erledigen zu können. Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ mit dem Untertitel „Zur deutschen Ideologie“ erschien 1964, übte erheblichen Einfluss aus, konnte aber auf Dauer Heideggers Werk und Einfluss nicht ernsthaft gefährden. Topitsch wiederum war bis 1969 in Heidelberg geblieben. Froh den studentischen Attacken gegen die Ordinarienuniversität zu entkommen wurde er Ordinarius für Philosophie an der Grazer Universität – für uns Studenten in der geistigen Provinz eine kleine Sensation!

„Machen Sie den Scheiß fertig!“

Daher kam es, dass ich bei Topitsch über die Frankfurter Schule dissertieren wollte. So wie Adorno Heideggers Sprache als „Ideologie“ entlarvt hatte, wollte ich mich meinerseits mit Adorno, seinem höchsteigenen „Jargon der Uneigentlichkeit“ befassen. Als ich Topitsch mein Anliegen vortrug, rannte ich offene Türen ein. Er beendete das Dissertationsgespräch mit dem Satz: „Machen Sie diesen Scheiß fertig!“

Topitschs Satz ließ mich eine Zeit lang zu Adorno konvertieren. Ich fasste den Entschluss, „diesen Scheiß“ nicht fertig zu machen. Stattdessen wollte ich einen Vergleich zwischen dem Kritischen Rationalismus Karl Poppers, zu dem sich auch Topitsch bekannte, und der „Negativen Dialektik“ Adornos anstellen. Damals dachte ich, beide Positionen seien versöhnbar. Denn für beide lag – abgesehen von den Formalwissenschaften – der Fortschritt des Denkens nicht im Beweisen neuer Theorien, sondern in der Frage, wieweit ein Standpunkt fähig sei, kritischen Einwänden standzuhalten. „Kritik“ hieß das Zauberwort, bloß deklarierte Adorno, dass mit der Metaphysik „im Augenblick ihres Sturzes“ Solidarität zu üben sei. Darüber machte sich die Gegenseite lustig.

Meine Idee war natürlich eine Schnapsidee. (Sie verhalf mir trotzdem zum Doktor der Philosophie, mein „Doktorvater“ half mit: als großzügig Enttäuschter). Denn die Feindschaft zwischen den Denkschulen resultierte aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, Mentalitäten und Animositäten. Bei Lutz Hachmeister kann man über Popper nachlesen, dieser habe Heidegger als „Schwein“ tituliert und empfohlen, jeden Philosophen, der Heidegger verteidige, totzuschweigen.

Nachdem ich begriffen hatte, dass meine anfänglichen Vorstellungen von gegenseitigem Respekt unter Geistesmenschen vollständig naiv waren, legte sich mir, in Erinnerung an Qualtingers „Herrn Karl“, das Bild einer Schlachtplatte nahe. Da lagen auf dem dampfenden Vorlegeteller des „Diskurses“ die unterschiedlichsten, mehr oder minder schwer verdaulichen Begriffs- und Ideenbrocken, frisch geschlachtet von ihren jeweiligen Verächtern und einem Publikum aufgetischt, das jede Niedertracht, garniert als „Kritik“, gierig verschlang.

Während meiner Tätigkeit als akademischer Lehrer machte ich es mir zur Gewohnheit, Adorno, Popper, Heidegger und all die anderen Denkmeister meinen Studenten als tiefsinnige Möglichkeiten nahezubringen, die mit Respekt zu reflektieren waren, verkörperten sie doch auf je ihre Weise Geistiges. Ohne die schmutzigen Seiten des Betriebs abzudunkeln, hoffte – und hoffe – ich, der Vielfalt zu dienen, die für mich mit dem menschlichen Streben nach Wahrheit einhergeht, namentlich bei der Befassung mit den vorletzten und letzten Fragen. Von meinen Kollegen wurde mir deshalb gern bescheinigt, „weder Fisch noch Fleisch“ zu sein.

Mir hingegen kam vor, im Vollzug der Abarbeitung diverser Nachkriegstraumata habe sich in der gebildeten Öffentlichkeit eine gewisse Geistfeindlichkeit breitzumachen begonnen. Dass die humanistische Bildung vor der Barbarei versagt habe, wurde zum Gemeinplatz, und jede neue Entdeckung hinsichtlich des unwürdigen Verhaltens einer Geistesgröße während des Nationalsozialismus galt als Bestätigung dafür, dass der „Geist“ vor keiner Dummheit, keiner Bösartigkeit schütze.

Die Debatte um die jüngst publizierten „Schwarzen Hefte“, Heideggers Denknotizen aus den frühen Dreißiger- bis in die Siebzigerjahre, ist ein weiterer Beleg für die tiefsitzende Lust, Geistesmenschen als zugleich monströse und banale Gestalten vorzuführen, sie zu entzaubern. Seit der Edition durch Peter Trawny macht der Begriff des „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ die Runde. Dass Heidegger dem – man muss leider sagen – Gewohnheitsantisemitismus seiner Zeit erlag, war bekannt. Nun scheint das Denken Heideggers im innersten Kern vergiftet. Dem „rechnenden, verrechnenden Wesen“ der Juden wird in den „Heften“ attestiert, sich der deutschen Heilsgeschichte in den Weg zu stellen und dem „Gestell“, dem Prinzip der kalkulierenden, technischen, ökonomischen Vernunft, zu unterwerfen.

Trawny ortet bei Heidegger einen „seinsgeschichtlichen Manichäismus“. Auf gut Deutsch: Heidegger als Geschichtsphilosoph des Seins dachte im Schwarz-Weiß-Schema. Ab einem bestimmten Moment der völkischen Erhitzung schloss er das Unwesen des Gestells mit dem Wesen des Jüdischen kurz. Die Folge laut Trawny: „seinsgeschichtlicher Antisemitismus“. Dieses Verdikt ist angesichts der Beliebigkeit des Schemas kaum plausibel. Nach 1945 besetzen den manichäischen Negativpol die Nazis, Amerikaner und Russen mit ihren Industrien, Bomben und „Machenschaften“, auch wenn Heidegger gelegentlich das Wiedererstarken der jüdischen Präsenz erwähnt.

Man mag Heideggers „Gestell“-Idee für abwegig halten, ihre Verklammerung mit dem Antisemitismus bleibt der Zeit geschuldet. Wissenschafts- und Technikkritik waren unter Geistesmenschen nämlich ganz allgemein ein Muss. Unter dem Druck der Moderne wurde laut Horkheimer und Adorno „noch der Mensch vorm Menschen zum Anthropomorphismus“. Totale Entfremdung durch Technik!, so lautete Herbert Marcuses Diagnose im „Eindimensionalen Menschen“ (1967). Günther Anders beklagte die „Antiquiertheit des Menschen“ (1956, 1980): Der Mensch verehre zusehends seine Maschinengeschöpfe, ja empfinde aufgrund ihrer Vollkommenheit eine Art „prometheische Scham“. Jüdische und linke Autoren übertrumpften sich im Fortschrittspessimismus, und ihre Diktion stand dem Schwarz-Weiß-Denken Heideggers kaum nach.

Freilich kommt in den „Schwarzen Heften“ eine schockierende Passage hinzu. Darin ist vom „Weltjudentum“ die Rede, welches, „aufgestachelt durch die aus Deutschland herausgelassenen Emigranten“, überall unfassbar bleibe, sich an keinen kriegerischen Handlungen beteilige, „wogegen uns nur bleibe, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern“. Aber sogar dieser Vorwurf spiegelt kein spezielles Ressentiment Heideggers wider, sondern variiert ein Klischee, das etwa Gottfried Benn 1933, in seiner „Antwort an die literarischen Emigranten“, gegenüber Klaus Mann erbittert vorgebracht hat: „Da sitzen Sie also in Ihren Badeorten und stellen uns zur Rede, weil wir mitarbeiten am Neubau eines Staates?“

Philosophischer Wahnsinn?

Statt solchen – im Rückblick besonders degoutanten – Ausfällen mit der heute immerhin möglichen Nachsicht zu begegnen, überschlägt sich das Feuilleton, läuft rhetorisch Amok. Thomas Assheuer verbeißt sich regelrecht in sein Opfer, wenn er Heidegger „philosophischen Wahnsinn“ und „in einigen Abschnitten ein Gedankenverbrechen“ attestiert („Die Zeit“, 13.März). Hat der Philosoph im Rechtssinn nichts verbrochen, dann muss er zumindest ein wahnsinniger Gedankenverbrecher sein. Das ist die Scharfrichterversion jener scheinheiligen Verzweiflung, die gut gelaunt kalauert: „Nur noch ein Gott kann uns vor Heidegger retten.“

„Nur noch ein Gott kann uns retten“, heißt es in dem legendären „Spiegel“-Interview (1966), das Heidegger erst nach seinem Tod veröffentlicht wissen wollte. Auch in dieser Episode spielt der Journalismus kei- ne Glanzrolle. „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein will seiner Sammlung prominenter Stimmen ein weiteres „Trophäeninterview“ hinzufügen. Begleiten lässt er sich von seinem engen Mitarbeiter Georg Wolff, der seit 1950 im Flaggschiff des deutschen Aufdeckerjournalismus emsig aufdeckt, nicht aber, dass er es unter den Nazis bis zum SS-Hauptsturmführer gebracht hat.

Könnten manche Meinungsmacher dem Geist vorschreiben, wo er zu wehen oder zu dampfen hat, würde es dem Autor der „Schwarzen Hefte“ ergehen, wie es Wolff nach Jahrzehnten im „Spiegel“ erging: Damnatio memoriae, Löschung des Andenkens. Doch wozu? Zwecks kultureller Selbstreinigung? Wohl eher, um die geistige Schlachtplatte neu zu belegen. Mahlzeit! ■

Lutz Hachmeister

Heideggers Testament

Der Philosoph, der „Spiegel“ und die SS.

368S., geb., €23,70 (Propyläen Verlag, Berlin)

Peter Trawny

Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung

106S., brosch., €15,30 (Klostermann Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2014)

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