„Als Strafe zu wenig“

Gegen Ende reichten schon kleinere Diebstähle oder eine leichte Körperverletzung für die Hinrichtung eines „Volksschädlings“: die „Justiz in Oberdonau“ – eine akribische Dokumentation der Willkür.

Nach gut drei Jahrzehnten zeitgeschichtlicher Tätigkeit gilt die Rolle der Justiz im NS-System als gut erforscht. Allerdings beschäftigen sich die meisten Studien mit der politischen Strafjustiz und dabei vor allem mit Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats sowie Wehrkraftzersetzung. Die jüngst vorliegende Forschungsarbeit „Justiz in Oberdonau“ widmet sich einer bisher wenig beleuchteten Dimension der NS-Justiz. Nicht die Bekämpfung politischer Gegner durch die NS-Justiz steht im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern ihr Verhalten gegenüber der Bevölkerung. Die beiden Historiker Winfried R. Garscha und Franz Scharf interessieren sich dafür, welche Erfahrungen die Mitläufer, die Ambivalenten und Lauen und die gar nicht wenigen stillen und offenen Unterstützer des Regimes mit der nationalsozialistischen Justiz machten.

Anhand von Fallbeispielen aus der alltäglichen Konfrontation der Bevölkerung mit der NS-Justiz entwerfen die Autoren das erschreckende Bild einer zunehmenden Willkür der Justizbehörden bei einer sich gleichzeitig ständig radikalisierenden Rechtsauslegung. Schließlich reichten schon ein paar kleine Diebstähle und eine leichte Körperverletzung bei einer Rauferei für die Hinrichtung eines „Gewohnheitsverbrechers“ und „Volksschädlings“ aus. Die Autoren untersuchten Vermögensdelikte, Verstöße gegen die kriegswirtschaftliche Güter- und Lebensmittelbewirtschaftung, arbeitsrechtliche Delikte, den „verbotenen Umgang“ mit Kriegsgefangenen, Abtreibungs- und Sexualdelikte (darunter auch die „Rassenschande“). Dazu kommen Gewalt- und Tötungsdelikte von der Wirtshausschlägerei bis hin zu Mord und Totschlag sowie einige politische Delikte im engeren Sinne, hier vor allem „Führerbeleidigung, Heimtücke“ (Verbreitung von Gerüchten) und „Rundfunkverbrechen“ (Abhören von „Feindsendern“).

Schwarzschlachtungen

Zu den häufigsten und am strengsten geahndeten Delikten zählten Schwarzschlachtungen und das Horten von Getreide. Ein Kleinhäuslerehepaar wurde etwa wegen einer Schwarzschlachtung zum Zuchthaus-antritt verurteilt. Was mit den vier Kindern geschehen sollte, interessierte das Gericht nicht. Eine verwitwete Bäuerin mit mehreren Kindern, der es bei hoher Schneelage unmöglich gewesen war, das Schlachtgut abzuliefern, erhielt acht Monate Haft. Ein Vöcklabrucker Fleischermeister, selber Parteigenosse und mit den lokalen Nazigrößen auf Duzfuß, wurde wegen Schwarzschlachtungen zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt – was den tief im Filz von Partei und Staatsorganen steckenden, notorisch korrupten Gauleiter Eigruber auf den Plan rief: „Wenn einer wegen 70 schwarz geschlachteter Kälber drei Jahre Zuchthaus bekommt, so ist mir das als Nazi zuwenig“, dekretierte Eigruber und verlangte für den Vöcklabrucker Fleischermeister die Todesstrafe. Die Justiz beeilte sich, dem Begehren des Gauleiters zu entsprechen. Der Mann wurde hingerichtet.

Der NS-Rassismus richtete sich vor allem gegen die jüdische Bevölkerung, Roma und Sinti sowie die zu Hunderttausenden in Industrie und Landwirtschaft eingesetzten Ostarbeiter und Kriegsgefangenen. Bei Letzteren wurde penibel nach der Herkunft unterschieden. Amerikanische oder französische Gefangene, die mit deutschen Frauen verkehrten, erhielten Gefängnisstrafen, polnische oder ukrainische Arbeiter wurden ins Zuchthaus geworfen, sowjetische Gefangene fielen, wenn sie beim selben „Delikt“ betreten wurden, der „Sonderbehandlung“ anheim, sie wurden ohne Verfahren erschossen. Auch Teile der „deutschblütigen“ Bevölkerung wurden Opfer dieses Rassismus, wenn sie als vermeintliche Gefahr für den „Volkskörper“ eingestuft wurden. Hiezu zählten sowohl psychisch kranke als auch erblich belastete Personen.

Schon vor dem NS-Regime ging ein Teil der Kriminalistik davon aus, dass Kriminalität auf einem genetischen Defekt beruhe; unter der NS-Herrschaft wurde diese Anschauung aber zur alles beherrschenden Maxime. Verfolgt wurden Personen mit abweichendem Sozialverhalten, denn in Partei, Sicherheitsapparat und Justiz herrschte die Meinung vor, derartige „Volksschädlinge“ gefährdeten den Endsieg. Wenn schon die Besten ihr Leben für Führer, Volk und Vaterland opferten, könne der kriminelle Abschaum nicht auf Staatskosten in Haftanstalten durchgefüttert werden, postulierten maßgebliche Strafrechtslehrer.

Auf diese Weise entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Doppelrolle der NS-Justiz. Neben der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und politischer Feinde wurde den „Volksgenossen“ ein strenger und unbestechlicher Rechtsstaat vorgegaukelt. Manche Richter getrauten sich sogar, lokale Parteigrößen anzuklagen, wenn die es in ihrer Hybris allzu arg trieben.

So taucht bei einigen mutigen Anklageerhebungen immer wieder der Name des viel beschäftigten Strafrichters Ferdinand Eypeltauer auf. Der legte sich auch mit korrupten Parteifunktionären an – ohne dafür gemaßregelt zu werden. Andererseits wirkte auch er als wichtiger Exponent des allgegenwärtigen Sozialrassismus. Er bescheinigte einem jugendlichen Straftäter aus einer Mühlviertler Bauernfamilie, bei dieser Herkunft könne er schlechterdings kein „Volksschädling“ sein. Einem angeblich geistig und körperlich rückständigen 16-Jährigen aus einer Linzer Arbeiterfamilie hingegen, der während eines Bombenalarms ein Leichenauto entführt und 80 Kilometer lang unfallfrei durch Linz bewegt hatte, sprach derselbe Richter das Lebensrecht ab, weil die kriminelle Energie des Buben eine ernsthafte Gefährdung der Gemeinschaft erwarten lasse. Aus diesen Gründen sei einzig die Todesstrafe geeignet, künftigen Schaden abzuwenden.

Der ausführlich dokumentierte Fall ist deswegen besonders tragisch, weil der Bub, ein gewisser Alois Hütter, der von anderen Häftlingen als durchaus „wiffer Kerl“ beschrieben wurde, zur Hinrichtung nach Wien überstellt, infolge der anrückenden Roten Armee aber nach Stein bei Krems transferiert wurde und damit Chancen hatte, die NS-Zeit zu überleben. Am 6.April 1945 kam es aber in Stein zu einem von der lokalen NSDAP, Volkssturm und SS ausgeführten Massaker an 386 Häftlingen, die meisten von ihnen Österreicher und Deutsche sowie Tschechen und Griechen. Alois Hütter entkam auch diesem Massaker, blieb aber in Stein inhaftiert. Bis neun Tage später, am 15. April 1945, sein „Glücksvorrat“ endgültig aufgebraucht war. Auf Befehl von Gauleiter Jury wurde er mit weiteren 43 Männern, darunter politische Gefangene, aber auch Diebe und Kleinkriminelle, durch Genickschuss getötet.

Die von den Autoren ausgebreiteten Fallbeispiele zeugen des weiteren davon, dass auch innerhalb des NS-Justizsystems ein bemerkenswertes Merkmal jeglicher faschistischer Gesellschaftsentwürfe wirksam wurde: Eine überaus dynamische, sich permanent selbst übertreffende Radikalisierung gesellschaftlicher Zielvorstellungen, die ihre letzte Erfüllung in einem allgemeinen Schlachtopfer und im Untergang aller menschlichen Haltungen findet.

Die Ausweitung des Staatsterrors

Anfangs war im NS-Justizsystem durchaus der Fortbestand autoritärer rechtsstaatlicher Strukturen gegenüber einem großen Teil der Bevölkerung festzustellen. „Nur“ gegenüber rassisch verfolgten Menschen und tatsächlichen Gegnern des Systems wurde ein offenes Terrorregime durch Folterung und Liquidierung etabliert. Dies mit jenem notwendigen Maß an Öffentlichkeit, das erforderlich ist, um die unentschiedene oder unterstützende Mehrheitsbevölkerung einzuschüchtern. Mit der Fortdauer des Systems, das unter seinen weitgehend unkontrollierten Funktionären immer mehr Willkür und barbarische Radikalisierung produzierte, verlor die rechtsstaatliche Dimension des NS-Unrechts an Bedeutung und die zweite, alle Menschlichkeit in den Boden stampfende Seite gewann die Oberhand.

Hemmungslos regierten die Partei und ihre Gliederungen wie SS, Sicherheitsdienst und SA in den Justizapparat hinein oder übernahmen schließlich gänzlich die Agenden der Justiz. Der Effekt war immer derselbe. Die Ausweitung des Terrors. Dass im Deutschen Reich bereits 1934 die Anzahl der Delikte, die mit Todesstrafe bedroht waren, von zwei auf 13 erhöht worden war, reichte besonders eifrigen Richtern und Staatsanwälten nicht aus. Sie bedienten sich juristischer Winkelkonstruktionen, um immer weitere Zuspitzungen in der Rechtsauslegung zu begründen, was dazu führte, dass schließlich selbst relativ harmlose Dutzenddelikte mit Todesstrafen geahndet – und diese in der überwiegenden Zahl auch vollzogen wurden. Angesichts des von den Autoren vorgelegten Materials ist es nicht übertrieben, davon zu sprechen, dass das wahre Ziel der NS-Justiz die Bekämpfung jeglicher Abweichung vom Willen der Partei und des Führers war. Sie bediente sich dabei einer entsetzlichen, semireligiösen Massenvernichtungswaffe namens „gesundes Volksempfinden“.

Letztlich lief also das NS-Justizsystem ebenso wie die politische, ökonomische und militärische Sphäre nicht auf die Festigung des Herrschaftssystems hinaus, sondern auf den totalen Krieg gegen den äußeren und inneren Feind, wobei beide mit dem Ziel einer flächendeckenden Liquidierung bekämpft wurden. Nachdem der innere Feind weitgehend liquidiert worden war, griff der Furor auf die abwartenden und zu wenig fanatischen Teile der Bevölkerung über, die ständig Gefahr lief, gegen kriegswichtige Gesetze zu verstoßen und Opfer eines unberechenbaren Justiz- und Sicherheitsapparats zu werden. Am Beispiel des „Gaues Oberdonau“ lässt sich nun im Detail belegen, dass die NS-Justiz als Transmissionsriemen einer sich permanent beschleunigenden Maschinerie von Terror und Auslöschung fungierte.

Im Dokumententeil der umfangreichen Studie wird erstmals das bisher nur in Auszügen veröffentlichte Urteil gegen den Wehrdienstverweigerer Franz Jägerstätter vollständig abgedruckt. Die Urteilsbegründung belegt, dass Jägerstätter, der ja beileibe kein apolitischer oder naiver Mensch war und mehrfach von der Verwerflichkeit des deutschen Imperialismus sprach, die Radikalisierung der NS-Herrschaft mit der Radikalisierung seiner Ansichten beantwortete.

Obwohl bereits dreimal zur Kraftfahrabteilung nach Enns einberufen, einmal nach Monaten, die anderen Male nach wenigen Tagen als unabkömmlich zur Bewirtschaftung seines Gutes entlassen, verweigert er 1943 bei einer neuerlichen Einberufung den Dienst mit der Waffe mit der Begründung, seine religiöse Überzeugung verbiete es ihm, die Waffe auf andere Menschen zu richten. Eine größere Provokation war für den NS-Justizapparat nicht vorstellbar.

Das von den Autoren formulierte Ziel der Studie – den nationalsozialistischen Justiz-alltag in der Zeit des „Gaues Oberdonau“ historisch nachvollziehbar zu machen – wird durch die aufwendig recherchierte und mit viel Einfühlungsvermögen bearbeitete Sammlung bedrückender und berührender Fallgeschichten überzeugend eingelöst. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2008)

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