Was ist ein gutes Leben?

Ist die gegenwärtige Wirtschaftsordnung alternativlos? Giacomo Corneo, Professor für Volkswirt-schaftslehre an der Freien Universität Berlin, geht der Frage nach, ob eine „Bessere Welt“ möglich ist? Eine aufregende Reise durch ökonomische Systeme.

Es gibt gute Gründe, mit der herrschenden Gesellschaftsordnung unzufrieden zu sein. Die Wirtschaftskrise hat diese Unzufriedenheit verstärkt. Aber Entwürfe einer anderen, besseren Ordnung sind kaum zu finden. Wahrscheinlich nehmen die schrecklichen Erfahrungen mit den versuchten Realisierungen solcher Entwürfe den Mut, an solche Projekte auch nur zu denken. Hat also die gegenwärtige Ordnung endgültig gesiegt?

Zunächst: Wie nennt mandie heutige Ordnung? Früher sprach man vom „Kapitalismus“, heute hat sich der Begriff „Marktwirtschaft“ durchgesetzt. Giacomo Corneo, Professor für Ökonomie an der Freien Universität Berlin, beharrt auf der alten Bezeichnung. Wer aber vom Kapitalismus spricht, zeigt eine Abneigung dagegen. Es geht nicht um Marktwirtschaft im Sinn von Adam Smith, nämlich lauter kleine Produzenten.

Die erhebliche Konzentration von Einkommen und eine noch stärkere bei Vermögen wird als Gefahr für die politische und wirtschaftliche Entwicklung gesehen, zuletzt wieder von der OECD. Sie hat nicht nur Ungleichheit beim Lebensstandard zur Folge, sondern darüber hinaus ungleiche Macht bei wirtschaftlichen Entscheidungen und bei der Beeinflussung der Politik. Der Autor weiß, wovon er spricht. Wie kein anderer in Deutschland beschäftigt er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit mit Ungleichheit.

Corneo will in diesem Buch nicht das Schlechte am Kapitalismus darlegen. Er wendet sich an diejenigen, die davon überzeugt sind. Es geht um die Alternativen. Er lädt zu einer Reise durch alternative Wirtschaftssysteme ein, um diese auf ihre Praktikabilität zu überprüfen. Er stützt sich dabei nicht auf Erfahrungen mit historischen Experimenten, vielmehr auf Einsichten moderner Wirtschaftstheorie. Bei historischen Analysen könnte man immer sagen, wenn man nur dies oder jenes anders gemacht hätte, dann wäre alles besser ausgegangen. Hätten etwa die Sowjets die Kollektivierung langsamer betrieben und hätten sie demokratischere Methoden angewandt, dann wäre die Produktion nicht drastisch zurückgegangen und es wären nicht Millionen verhungert. Es geht hier um die Frage, ob dieses oder jenes System funktionieren kann, nicht darum, ob kluge und gutwillige oder dumme und bösartige Personen die Führung innehatten.

Es werden Entwürfe von Gesellschaften analysiert – Utopien. Zunächst die von Plato in „Der Staat“ entworfene Konstruktion, bei der die Akteure im politischen System von allen anderen, insbesondere von den Akteuren in der Wirtschaft, vollkommen getrennt werden. Daran schließt sich die Analyse der Utopie von Thomas Morus, in der kleine Inseln mit Gütergemeinschaft nebeneinander existieren. Dann kommt man zu einer zentralen Planwirtschaft. Die Besichtigungstour geht weiter zu dezentralen Systemen, dem Sozialismus mit Selbstverwaltung, in dem die in den jeweiligen Unternehmen Beschäftigten alle Entscheidungen treffen und sie auch alle Erträge lukrieren. Danach geht es zum Aktiensozialismus, bei dem die Gestaltung der Anteile an den Unternehmen vererbbare Machtkonzentration verhindert. Zuletzt wird eine Marktwirtschaft mit Grundeinkommen zur Abwehr von Armut besucht.

Strategien gegen Marktversagen

Jedes der Systeme wird daraufhin geprüft, ob es neben dem Ziel der Gerechtigkeit zwei weitere wichtige Anforderungen erfüllen kann: Es muss eine Versorgung mit Gütern ermöglichen, die der Ausdifferenziertheit der heutigen Güterwelt entspricht. Ein System, das das nicht leistet, würde abgelehnt werden. Corneo nennt das die Allokationsfunktion der Gesellschaft. Darüber hinaus muss jede Gesellschaft für jene Ziele vorsorgen, die durch individuell geplante Handlungen nicht erreicht werden können. Dazu gehört all das, was in der Sprache der Ökonomie Marktversagen genannt wird. Diese Aufgabe wird als Koordinationsfunktion bezeichnet. Im Kapitalismus übernehmen Märkte und das Privateigentum an Kapital die Allokation und der – im günstigen Fall parlamentarisch-demokratische – Staat die Aufgabe der Kooperation.

Es muss vom Planer einer besseren Gesellschaft akzeptiert werden, dass Menschen im eigenen Interesse handeln. Zwar kann man Kooperation und Solidarität als Motiv für Handlungen voraussetzen und darauf aufbauend entsprechende Institutionen organisieren, aber es gibt dafür Grenzen. Eigennütziges Handeln soll nicht unterdrückt werden, beruht die gegenwärtige hohe Versorgung mit Gütern doch auch auf Handlungen aus dem Gewinnmotiv. Wo die Grenzen für eine Akzeptanz von eigennützigem Handeln zu ziehen ist – eine in jeder Steuerdiskussion wichtige Frage –, sagt Corneo nicht. Er weiß, dass sie nicht fix ist. Mehrfach führt er an, dass in stärker egalitären Gesellschaften der Wunsch, sich von anderen in einem Konsumwettlauf zu unterscheiden, geringer wird. Menschen können solidarisch denken und danach handeln.

Im Übrigen weist der Autor darauf hin, dass auch eine Marktwirtschaft nicht funktionieren kann, wenn Menschen bei jeder Aktion Kosten und Erträge genau einander gegenüberstellen. Wer zum Arzt geht, muss sich darauf verlassen, dass dieser nicht nur an sein Einkommen denkt. Er muss auch das Ziel haben, Kranke zu heilen. Wenn ein Unternehmen eine Ingenieurin beschäftigt, dann muss diese auch Freude am Funktionieren der von ihr geplanten Anlagen haben. In Unterkapiteln wird die Bedeutung der Annahmen über menschliches Handeln für die Analyse der diversen Sozietäten dargestellt.

Das Ergebnis der Analysen ist betrüblich. Keine der behandelten Utopien liefert ein brauchbares Konzept einer alternativen Gesellschaftsordnung. So würde etwa die Utopie Platos daran scheitern, dass es das Entstehen einer Kaste voraussetzt, die vom Rest der Bevölkerung getrennt ist. Während der Normalbürger sich frei wirtschaftlich betätigen darf, ist der Gruppe der Tugendwächter jede wirtschaftliche Tätigkeit verboten. Durch strenge Erziehung sollen diese Tugendwächter nicht nur Weisheit für Aufgaben des Regierens erhalten, sondern auch Immunität gegen Bestechung. Das setzt ihre Trennung vom Rest der Bevölkerung voraus, ist also mit Demokratie nicht vereinbar.

Ein aktuelles Problem: Politiker verdienen in den funktionierenden Demokratien gut. Aber sie verdienen viel weniger als Leiter von größeren Unternehmen, als führende Rechtsanwälte, Ärzte, Künstler. Man verlangt von ihnen die Tugend der Bescheidenheit, während man bei anderen extrem hohe Einkommen als marktgerechten Preis rechtfertigt. Politiker in Demokratien müssen mit dem Rest der Bevölkerung verbunden sein. Die Tugend der besonderen materiellen Bescheidenheit kann nicht erwartet werden. Das System ist daher anfällig für Missbrauch– direkte Korruption, Politik als Zwischenschritt für lukrativere Tätigkeiten.

Die Utopie von Thomas Morus als Basis einer anzustrebenden Gesellschaft zu nehmen hat hingegen das Problem, wie einerseits Arbeitspflicht mit qualitativ hochstehender Arbeit zu erreichen ist und andererseits der Konsum an Gütern, die frei genommen werden können, doch beschränkt werden muss. In einer Gesellschaft mit beschränkter Gütervielfalt wie in England im frühen 16.Jahrhundert ist diese Vorstellung keinesfalls absurd, hatten die meisten Menschen doch nur einfache Nahrungsmittel, Kleidung und Behausung. Davon hat man bald genug. In einer modernen, stark arbeitsteiligen Wirtschaft geht das nicht.

Noch stärker treten diese Probleme in einer zentralen Planwirtschaft auf. Woher weiß das Zentrum, welche Produkte produziert werden sollen und können? Der Staat spielte bei der Entwicklung der Technologie des Internets und der modernen Telekommunikation eine wichtige Rolle. Aber die Anwendungen, die unseren Alltag stark verändert haben, wurden durch kommerzielle Nutzung geschaffen. Hätte der Staat Steve Jobs zu jener Aufgabe gebracht, die er sich selbst gestellt hatte, um Einkommen zu erzielen? Die Befriedigung von Grundbedürfnissen – Nahrung, Bildung, Gesundheit– könnte eine Planwirtschaft organisieren, würde sie nicht von wahnsinnigen Diktatoren, etwa Stalin oder Mao, geleitet werden. Aber gerade ein System mit nur einem Zentrum für alle Entscheidungen über Wirtschaft und Politik wird mit hoher Wahrscheinlichkeit von ebensolchen Personen geführt.

Für die dezentralen Systeme wiederum gilt, dass Anreize geschaffen werden, die Interessen der Gesamtgesellschaft hintanzuhalten. Warum sollten die Arbeiter in einem genossenschaftlichen Stahlwerk den in ihrem Werk entstehenden CO2-Ausstoß anders beurteilen als private Eigentümer? Warum sollte eine Gemeinde als Aktionärin eine allfällige Monopolposition eines in ihrem Gebiet angesiedelten IT-Unternehmens anders als private Eigentümer betrachten? Manche Nachteile einer Marktwirtschaft könnten um die einer sozialistisch organisierten vergrößert werden.

Die Schlussfolgerung daraus: Auf Marktwirtschaft und Privateigentum kann man nicht verzichten. Ebenso wenig kann man aber auf ein politisches System verzichten, das deren Nachteile begrenzt. Es geht um eine Lösung, vielleicht auch nur um eine Abschwächung jeweils konkreter Probleme, die der Kapitalismus nicht lösen kann oder sogar verstärkt. Corneo nennt das Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Damit ist sicher nicht nur Schminke gemeint.

Die Reise endet mit einer Rückkehr zu den wohlfahrtsstaatlich organisierten Systemen. Die schleichende Verschlechterung in diesen Systemen wird von ihm abgelehnt, obwohl er als Professor für Finanzwissenschaft sehr gut über die gegenwärtigen Budgetprobleme der Staaten Bescheid weiß. Er muss sie ja unterrichten. Leider bleibt der Autor bei diesem positiven Teil sehr vage.

Auf der Suche nach dem guten Leben

Ein möglicher Ansatz für eine weitere Diskussion: Nicht Umverteilung schlechthin soll das Ziel der Politik sein, sondern die Sorge dafür, dass man auch mit geringen Mitteln recht gut leben kann. Wenn einer Person in Folge sehr hohen Einkommens besonders guter Wein, die besten Plätze in der Oper, eine Jacht in einem Hafen zur Verfügung stehen, so mag das ungerecht sein. Es ist aber nicht schrecklich, keinen so guten Wein, nicht die besten Plätze in der Oper und auch keine Jacht zu haben. Es fehlen aber die Grundlagen für ein gutes Leben, wenn man wegen geringen Einkommens bei Krankheit von medizinischen Leistungen oder von einer guten Schule für die Kinder ausgeschlossen ist. Das gilt auch dann, wenn die Unterschiede der Einkommen auf gerechtem Weg entstanden sind.

Es sind das Bereiche, bei denen der Staat in Europa traditionell bei der Produktion eingreift. Man weiß ja, wie viele Kinder geboren worden, und man weiß auch, wie groß Klassen in guten Schulen sein dürfen – Schulen für alle, die die Mittelschicht für die eigenen Kinder akzeptiert. Man weiß daher auch, wie viele Lehrer nötig sind. Entsprechendes gilt für das Gesundheitssystem, für den öffentlichen Verkehr und ähnliche Bereiche. Dass in den reichen Ökonomien der Staat Leistungen auf einem Niveau organisiert, sodass sie von fast allen akzeptiert werden, ist keine Utopie. Sie ist vielleicht politisch schwer durchzusetzen, weil es eine stärkere Besteuerung der hohen Einkommen verlangt. Aber es soll ein politisches Ziel sein, dass man auch mit geringen Mitteln ganz gut leben kann. ■

Giacomo Corneo

Bessere Welt

Hat der Kapitalismus ausgedient? Eine Reise durch alternative Wirtschaftssysteme. 368 S., geb., €24,80 (Goldegg Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

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