Fußball und die Mutter

Man sollte Péter Esterházys Spiel mit biografischen Fakten kennen, bevor man sich auf „Keine Kunst“ einlässt. Die Hommage an die tote Mutter im Roman „Die Hilfsverben des Herzens“ wird hier umge-schrieben in eine anspielungsreiche Fiktion.

Wie immer Péter Esterházy den Titel „Keine Kunst“ gemeint haben mag, es ist jedenfalls eine Kunst, darüber zu schreiben. Denn es ist zwar leicht, sich lesend in die endlosen Ketten von Anspielungen, Verweisen, Zitaten und Assoziationen dieses Buches hineinfallen zu lassen, aber es ist schwer zu beschreiben, was man da eigentlich gelesen hat, und erst recht, Rang und Bedeutung dieses Buches auszumachen. Selbstverständlich gibt es in Esterházys Prosa keine vom Text ablösbare Handlung, und selbstverständlich setzt er voraus, dass man sein bisheriges Werk kennt. Hat man sich etwa als passionierter Fußballmuffel seinem Buch „Deutschlandreise im Strafraum“ verweigert, ist man streckenweise schon disqualifiziert. Man sollte nämlich über die „Goldene Elf“ Bescheid wissen – jene legendäre ungarische Mannschaft, die zwischen 14. Mai 1950 und dem WM-Finale am 4.Juli 1954 in Bern keine einzige Partie verlor und 1953 im Wembley-Stadion die bis dahin in Heimspielen noch ungeschlagenen Engländer besiegte. Die Namen der Spieler dieses Teams wirbeln durch das ganze Buch, und ihr Kapitän Ferenc Puskás ist quasi omnipräsent.

Doch der Text bewegt sich nicht nur durch die Fußballwelt, sondern ebenso durch das literarische Universum. Einmal fungiert der Name Aschenbach als Signal, dass man sich unvermittelt in einem „Gasttext“ aus Thomas Manns „Tod in Venedig“ befindet, ein andermal klingt Dante an: Gleich das erste Kapitel ist „Dichtung und Wahrheit“ überschrieben, und der Ich-Erzähler spielt quasi Elias Canetti, wenn er mit verstellter Stimme erklärt, er sei seine eigene Haushälterin. Wer sich in der ungarischen Literatur ein wenig auskennt, weiß vielleicht noch, dass bereits im zweiten Absatz mit „Ich lag im Bett, in Kissen, wie der Dichter sagt, und doch martialisch“ auf ein bekanntes Gedichtvon Sándor Petöfi angespielt wird; dass jedoch mit „Im Körper zu leben, sei der Tod selbst, habe ich gelesen“ ein Zitat von Szilárd Borbély markiert wird, kann man wohl nur über ungarische Rezensionen – die übrigens recht kontrovers sind – herausfinden. Der Text funktioniert aber auch so, und auch kein ungarischer Leser findet alle Bezugstexte. Zwischen Bibelzitaten und Formeln der katholischen Messe bis hin zu „Casablanca“ und Emir Kusturica („Der Beginn einer beautiful friendship“) ist hier vieles versammelt, was gut und teuer ist in der Kulturgeschichte; der Text bedient sich sogar bei den Augenbrauen von Czeslaw Milosz oder der Krawattenfarbe von Bohumil Hrabal.

In der Textwelt von Esterházy sollte man freilich zu Hause sein, wenn man „Keine Kunst“ liest; denn anders versteht man nicht die radikale Neuerfindung der Biografie der Mutter des Autors und das luzide Spiel mit biografischen Fakten, das hier betrieben wird. Hat er in „Verbesserte Ausgabe“ die Mythisierung der Vaterfigur aus „Harmonia Cælestis“ in die (durch Kooperation mit dem Geheimdienst diskreditierte) reale Biografie weitergeschrieben, so geht er in „Keine Kunst“ den umgekehrten Weg: Die Hommage an seine verstorbene Mutter in den „Hilfsverben des Herzens“ wird umgeschrieben in eine Fiktion, die ihr quasi ewiges Leben gewährt. Dabei ist kaum auszumachen, welches Ich hier eigentlich spricht. Nur so viel ist klar: Der Ich-Erzähler darf nicht erschossen werden. Auf Seite 217 freut sich der Autor noch einmal ausgiebig darüber.

Es sind vor allem diese Kommentare des Erzählers, die auch dieses Esterházy-Buch zu einer auf höchstem Niveau vergnüglichen Lektüre machen. „Mit dem Tod meiner Mutter bin ich schon mehrmals gut gefahren“, liest man da, und eine Seite weiter parodiert die als „Romanheld namens Meinemutter“ zu neuem Leben erweckte Mutter jene Kritiker Esterházys, die nach den „Hilfsverben des Herzens“, in denen die Mutter gestorben ist, meinten, „endlich seist du ernst geworden, ich hätte deinem Buch Gewicht verliehen, und du würdest nun nicht mehr spielen, du hättest nicht mehr nur Worte, sondern auch eine Mutter“. Und zum Ausgleich dafür „spielt“ Esterházy in dem neuen Buch mehr als je zuvor, und das Übergewicht der fiktionalen Biografien der Mutter, des Vaters und des Ich-Erzählers ist so groß, dass die wenigen auszumachenden realen Fakten zum irritierenden Störfaktor geraten. Gelegentlich werden überhaupt alleFakten aufgelöst im Strudel der allumfassenden Fiktion. Vor allem aber wird auf jene unnachahmliche Weise, wie das nur Péter Esterházy gelingt, Vergleichen und Metaphern immer wieder der Boden entzogen. Und natürlich wird auch das Prinzip, die eigenen Bücher um- und weiterzuschreiben, lustvoll parodiert.

Bewundernswert sind die essayistischen Pfeile, die wie nebenbei auf die Gegenwart und die jüngste ungarische Geschichte abgeschossen werden. Gleich zu Beginn führt ein Krieg zwischen der ukrainischen und der albanischen Mafia in Budapest zur Frage, warum „das Volk von Bartók und Puskás nicht in der Lage sein soll, aus eigener Kraft wenigstens eine kleinere Mafia aufzustellen“. In der „Stasi-Etüde“, einem der dichtesten Stücke des Buches, wird an der schmerzhaften Grenze von burlesker Komik und Beschreibung nur allzu realer Foltermethoden eine Typologie von Schlägern in der kommunistischen Diktatur entwickelt, die viele weitschweifige Erklärungen in den Schatten stellt. Die pragmatischen Überlebensstrategien in der Kádár-Ära oder die Privatisierung nach 1989 – was hier in winzigen Beobachtungen aufblitzt, würde minderen Autoren wie Esterházy als Stoff vieler weitschweifiger Essays ausreichen.

Esterházy, der sich nicht nur über das eigene Schreiben, sondern auch über das Übersetzen lustig macht. Terézia Mora ist sie wieder einmal bravourös gelungen, auch wenn man kritisieren könnte, dass das Nebeneinander von Austriazismen und Teutonismen kein System hat. Aber vielleicht wollte sie das Repertoire der deutschen Sprache ausloten wie Esterházy das Ungarische. Und was hat bei ihm schon System?

Womit wieder die Grundfrage angesprochen wäre: Der Text ist ein Feuerwerk von Zitaten und Anspielungen, das aber noch weniger eine Kohärenz hat als andere Esterházy-Bücher. Einfacher gesagt: Das Buch könnte noch endlos weitergehen, aber es hätte auch schon früher zu Ende sein können, ohne dass seine Struktur beschädigt wäre. Das spielerische Verweissystem entpuppt sich als glänzender Leerlauf. Aber ist das eine Kritik am Text, oder zeigt es gerade dessen Intention: das Leben als (Fußball-)Spiel darzustellen und die Welt als universalen Leerlauf? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2009)

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