Werte? Nur mehr Blutwerte!

Ilija Trojanows Essay „Der überflüssige Mensch“ und das Manifest „Freunde des Wohlstands“: über die wachsende soziale Kluft.

Ilija Trojanow ist stets am Puls der Mediendebatten, was ihm seit Anbeginn entsprechende Öffentlichkeit garantierte. Nach Migration, Globalisierung, Datenschutz, Klimaerwärmung – Gentechnik oder Pflegedebatte sind noch ausständig – ist nun die Wirtschaftskrise dran.

Der Auftakt seines Essays „Der überflüssige Mensch“ ist das Floß der Medusa. Es geht nicht um die Gemälde von Delacroix und Géricault, die Peter Weiss in seiner „Ästhetik des Widerstands“ zur Frage nach der sozialen Verantwortung von Kunst veranlassten, sondern um die Fakten: Nach dem Sinken der französischen La Méduse 1816 überlebten 15 der 147 Passagiere, die auf keinem Rettungsboot Platz fanden und mit einem Floß vorliebnehmen mussten. Ist das Boot voll, stehen unangenehme Entscheidungen an; global gesehen ist die zentrale Frage freilich, ob das Boot wirklich voll ist – und vor allem, wer das definiert.

Mela Hartwigs Roman „Bin ich ein überflüssiger Mensch?“ fragte Anfang der 1930er-Jahre nach den beruflichen Optionen von Frauen. In diesem Punkt sind die Geschlechtergrenzen durchlässig geworden. Die Automatisierung verhängt das potenzielle Verdikt „überflüssig“ mittlerweile einträchtig über beide Geschlechter, menschliche Arbeitskraft wird tendenziell überflüssig. Mittlerweile haben sich die Kernbelegschaften der Unternehmen weltweit auf 20 Prozent reduzieren lassen; zwischen prekärer Zeitarbeit und einigermaßen abgesicherten Anstellungsverhältnissen bestehen kaum durchlässige Barrieren. Gut zwei Drittel der Weltbevölkerung, deren die kapitalistische Produktionsweise nicht mehr bedarf, werden zum Störfaktor. Da sich die „Unentbehrlichen und die Überflüssigen so gut wie nie“ begegnen, wäre es ehrlicher, die Kategorie „Unberührbare“ für jene einzuführen, „die weder sichtbar sind noch am Wirtschaftsleben teilnehmen können“. Und statt wertneutral von den Superreichen sollte man politisch korrekter von Oligarchen sprechen. Soziale Sprachregelungen sind keine Frage der Ästhetik, sondern Mittel der Verschleierung von politischen Zusammenhängen.

Das half auch, der Bevölkerung nach dem Finanzcrash die „angeblich notwendigen Opfer“ unterzujubeln. Schließlich wurden Maßnahmen zum systematischen Sozialabbau schon seit gut zwei Jahrzehnten als „Reformen“ verkauft – worunter man traditionell politische Korrekturen verstand, um Ungerechtigkeiten der Marktmechanismen zugunsten der unteren Schichten auszugleichen. Und das Zauberwort „Globalisierung“ half, die aktuelle Entwicklung nicht als Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln kenntlich zu machen.

Trojanow spricht solche Zusammenhänge oft erfreulich direkt aus, auch problematische Implikationen der Öko-Bewegungen: Pestizide sind chemisch nachweisbar, Arbeitsbedingungen nicht, weshalb sie in den Bobovilles der Industrieländer weniger interessieren. Hier übt man sich in die physischen und ästhetischen Anforderungen des „Survival of the fittest“ ein und versteht unter inneren Werten tendenziell nur mehr Blutwerte.

Problematisch sind auch die „Tafeln“, die „wie süßsaure Pilze aus dem Nährboden der sozialen Einrichtungen schießen“. Mehr als eine Million Menschen sind in Deutschland von diesen Essensausgaben abhängig. Auch hier müsste schon der Begriff irritieren:„Tafel“ bezeichnet die luxuriös gedeckten Tische der Wohlhabenden, von denen immer schon mancher Brosamen zu den Lazarussen der Welt herabfiel. In der Serie „The Walking Dead“, so Trojanow, sehen die Zombies teilweise Noma-Kranken ähnlich. Das sind Unterernährte, deren Gesicht von Mikroorganismen zerfressen wird, die das Immunsystem nicht abwehren kann. Googelt man „Noma“, bringen die ersten 100 Treffer ein dänisches Nobelrestaurant gleichen Namens.

Der „Duktus der folgenlosen Empörung“, so ist zu befürchten, haftet freilich auch diesem Essay an, nicht nur weil das abschließende Kapitel „Auswege“ eher dürftig ausfällt. Trotzdem regt der schmale Band zum Nachdenken an, was es gesellschaftspolitisch bedeutet, wenn Oligarchen nach Lust und Laune Fußballvereine, Parteien oder einen Formel-1-Rennstall finanzieren. Das hat vor einiger Zeit einen widerspenstigen Schuhproduzenten zur Gründung eines Formel-Z(ukunft)-Rennstalls für die Kinder seiner Mitarbeiterinnen inspiriert, der sich bisher leider nicht steuerschonend absetzen lässt.

Eine effektivere Option der Kunst, in soziale Prozesse einzugreifen, demonstrieren die „Freunde des Wohlstands“. Mit bildhaft-szenischen Erzählungen führen Carlos Anglberger, Thomas Duschlbauer und Barbara Larcher zufälligen Passanten soziale Reibungsflächen vor. Ihre inszenierten Aktionenim öffentlichen Raum lösen Irritation aus und betreiben damit „Aufklärung“ im klassischen Sinn. Die „Freunde des Wohlstands“ sind „part of the game“ und kämpfen unentwegt für die Minderheitenrechte der „Menschen der Premiumklasse“, die von der „Neidgesellschaft“ verfolgt werden.

Unter dem Slogan „Geht's der Wirtschaft gut. Geht's der Wirtschaft gut“ – mehr als 20 Prozent Kernbelegschaft sind global eben nicht mehr drin – werden Schnäppchenjäger in Einkaufsstraßen als Wirtschaftsschädlinge gejagt – oder in Salzburg der Tod aus Hofmannsthals „Jedermann“, der ja ein Recht auf seinen Reichtum hat. Beim Schauessen „Ein Prozent für Afrika“ an der Linzer Donaulände verspeisen sie exquisite Babyrobbenpastete, damit die armen Tiere nicht nur ihrer Felle wegen umgebracht werden. In Wien bahnen sie mit herrischer Geste – „in cash we trust“ – und Koffern voller Spielgeld dem Tripple A eine Bankenrettungsgasse und tragen angesichts der Transaktionssteuer den Finanzplatz tränenreich zu Grabe. Dabei bedarf es durchaus einiger Fantasie, dem Zynismus der Realpolitik Kontra zu geben.

Die Schuldenfalle für verarmte Spekulanten zu inszenieren stößt ganz direkt an dieGrenzen der Realität: Die Bezirksvorsteherin des ersten Wiener Bezirks hat den Begriff „Armutsfalle“ schon vor einiger Zeit für ihr Hoheitsgebiet beansprucht. ■

Ilija Trojanow

Der überflüssige Mensch

90 S., Tb., € 8,20 (Deutscher Taschenbuch Verlag, München)
Carlos Anglberger, Thomas Duschlbauer und Barbara Larcher
Die Freunde des Wohlstands

Rat und Hilfe für Menschen der Premiumklasse. 92 S., 67 Farbfotos, brosch., €17,50 (Albatros Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2015)

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