Lola läuft und liebt

Die Figuren in Mirna Funks Roman „Winternähe“ sind alle ein bisschen exzentrisch. Trotzdem vermittelt er ein realistisches Bild vom modernen Leben in Europa und in Tel Aviv mit den sozialen Netzwerken, dem Antisemitismus und dem Leben unter Raketenbeschuss. Fesselnd und aktuell.

Fulminant beginnt der Debütroman der 1981, noch in der DDR geborenen Berliner Journalistin Mirna Funk. Lola, die Hauptfigur des Romans und genauso alt wie die Autorin, malt sich auf der Toilette mit einem Kajalstift einen Hitler-Schnurrbart auf die Oberlippe. Als sie in dieser Aufmachung den Gerichtssaal betritt, starren sie zuerst ihr Anwalt, dann der Richter, die Angeklagten und deren Verteidiger entsetzt an, und der Richter verweist sie des Saales. Eine Bekannte hat ein Selfie von Lola auf Facebook und Instagram getagged, auf dem ihr jemand mit vergnügtem Gesicht und Daumen hoch einen Hitler-Schnurrbart aufmalt. Daraufhin verklagte Lola beide.

Es geht um Antisemitismus in Deutschland, der verharmlost wird und mit Äußerungen wie „Man muss doch auch mal offen etwas sagen dürfen!“ zurückgewiesen wird. Selbst wenn man Gaza mit Auschwitz vergleiche, sei es doch bloß eine Kritik an Israel, die erlaubt sein müsse.

Lolas Vater ist Jude, nicht aber ihre Mutter. Sie fühlt sich als Jüdin und möchte konvertieren, da Lola nach jüdischem Gesetz keine Jüdin ist. Witzig beschreibt Funk das „Konvertierungstheater“, das Lola bald zu dumm wird. Geschickt wird in Rück- und Einblenden von Lolas Kindheit in Ostberlin, ihrem Vater, Simon, der das Medizinstudium aufgegeben hat und sein Geld als Straßensänger verdient, ihren jüdischen Großeltern und ihrer nicht sehr klugen Mutter, Petra, erzählt. Lolas Eltern ließen sich scheiden, als Lola fünf Jahre alt war, und als sie sieben war, haute Simon nach Westberlin ab. Nach der Wende sah Lola Simon wieder, und die Mutter zog mit einem Immobilienmakler nach Hamburg. Danach lebte Lola bei ihren jüdischen Großeltern in Ostberlin.

Lola arbeitet als Fotografin in einer Bildagentur. Nach heftigen antisemitischen Äußerungen ihrer Kollegen, die sich jedoch selbst niemals als Antisemiten bezeichnen würden, kündigt sie. Nun arbeitet sie als freie Fotografin und lebt mehr schlecht als recht davon. Die meiste Zeit läuft sie durch Berlin, fotografiert versteckte Details und postet die Fotos täglich auf Instagram. An ihrem 34.Geburtstag offeriert sie deren Abzüge für 150 Euro das Stück. Zwei Wochen später beträgt ihr Kontostand 33.478 Euro.

Lola swipt stundenlang und findet schließlich bei der Online-Partnervermittlung Tinder den Israeli Shlomo, mit dem sie sich auch trifft. Er besitzt eine Wohnung in Berlin und besucht die Stadt mehrmals im Jahr. Er schreibt für die Tageszeitung „Ha'aretz“ und ist ein Linker, der Israel für einen Apartheidstaat hält. Obwohl es bei einem Tinder-Date ausschließlich um Sex geht, verlieben sich die beiden ineinander. Bei seiner Abreise schlägt Shlomo Lola vor, den Sommer in Tel Aviv zu verbringen.

Tatsächlich mietet Lola eine Wohnung in Tel Aviv, geht eine Woche nicht aus dem Haus und denkt an ihre Kindheit. Nach acht Tagen ruft sie endlich Shlomo an. Von einem Freund Shlomos erfährt sie, dass Shlomo, als er bei der Armee im Westjordanland stationiert war, einen palästinensischen Jungen mit einem Gummigeschoß am Kehlkopf getroffen hat und dieser erstickt ist. Seit Lola das weiß, sieht sie Shlomo mit anderen Augen.

Lolas Großvater Gershom, der nach dem Tod seiner Frau, Hannah, nach Israel gezogen ist, stirbt und Lola findet in seiner Wohnung einen verschlossenen Brief Hannahs an sie. Gershom ist nicht Simons Vater, sondern jener jüdisch-amerikanische Soldat, der Hannah nach der Befreiung Dachaus täglich im Krankenhaus besucht hat und schließlich 1960 nach Ostberlin gekommen ist. Die Lektüre des Briefes nimmt Lola mit; da es ihr schlecht geht, fängt sie mit Shlomo Streit an. Danach bucht sie einen Flug nach Bangkok. Sie fühlt sich elend, ruft einen Typ an, der ihr ein paar Tage zuvor einen Zettel mit seiner Nummer in die Hand gedrückt hat, betrinkt sich und hat einige Tage hindurch sadomasochistischen Sex mit ihm.

Lola verbringt zwei Monate auf einer Insel in Thailand. Sie schreibt Briefe an ihren Vater, der inzwischen in Australien lebt. Sie will ihm entgegenreisen und den Brief zeigen; er will aber nichts von ihr wissen. Sie bekommt ein E-Mail, dass sie in Bangkok ein Event als Fotografin covern soll. Der Flug nach Bangkok, drei Tage Hotel und Rückflug nach Berlin würden bezahlt.

Funks Figuren sind alle ein bisschen exzentrisch. Der Vater, der Ausdauerlaufen übt, um in den Westen zu „laufen“ und in Israel seine elfjährige Tochter durch Klauenüben „Holocaust-fit“ machen möchte; Lola selbst, die aus ihrer Wohnung eine Installation macht, indem sie sie auf den Kopf stellt, die ihre Wohnung eine Woche nicht verlässt, die mitten in einem Gespräch mit ihrem Freund vom Tod ihres geliebten Großvaters erfährt, ihrem Freund aber nichts erzählt und das Gespräch fortsetzt, als ob nichts geschehen wäre; ihre Nachbarin, die seit zwölf Jahren an einem Gedichtband arbeitet, tagsüber schläft und nachts bei Kerzenlicht lebt.

Dennoch vermittelt der Roman ein realistisches Bild vom modernen Leben in Berlin und Tel Aviv mit den sozialen Netzwerken, dem unauslöschlichen Antisemitismus, der unerträglichen Luftfeuchtigkeit in Tel Aviv und dem Leben unter ständigem Raketenbeschuss. Es ist ein fesselnder und aktueller Roman, der auch stilistisch überzeugt, weil er rasant und in starken Bildern erzählt.

Anzumerken bleibt lediglich, dass Lolas Großmutter nicht 1941 in das KZ Dachau gekommen sein und „es überlebt“ haben kann, da Dachau einerseits ein Männerlager war, andererseits 1942 alle Juden aus Dachau nach Auschwitz deportiert wurden, wenngleich am Ende des Krieges wieder Juden auf den Todesmärschen nach Dachau kamen. ■

Mirna Funk

Winternähe

Roman. 352S. geb., €20,60 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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