Dem Kosmos einen Tritt

„Dada ist kein Rüpelspiel“, schrieb Hans Arp rückblickend. Zu Beginn war das „Mouvement“ Ausdruck der Verzweiflung über den Krieg und die damit verbundene Sprachverluderung. Dada oder: Der kurze Frühling der Anarchie.

So weit ist es nun tatsächlich mit dieser Welt gekommen / Die Kühe sitzen auf den Telegrafenstangen und spielen Schach.“ Diese Verse Richard Huelsenbecks aus seinem Gedicht „Ende der Welt“ bringen den Ausgangspunkt der Dada-Bewegung auf den Punkt: die Absurdität des Krieges. Was die artistisch und charakterlich weidlich disparaten Dada-Künstler einte, war ihre Kriegsgegnerschaft. Als am 5. Februar 1916 im Saal der Meierei in der Züricher Spiegelgasse 1 die Künstlerkneipe Voltaire eröffnet wurde, war die deutsche Heeresleitung mit der Planung des Angriffs auf die Festung Verdun beschäftigt. Der kurz danach beginnende Stellungskrieg machte wie nie zuvor die Industrialisierung des Krieges deutlich. Die Kunst, so die Ansicht der Dada-Gründungsväter, hat das große Schlachten nicht verhindert, schon gar nicht die Sprache, die zum Propagandainstrument geschändet worden ist.

Blättert man in einigen der zahlreichen Neuerscheinungen zum Gedenken an den Beginn des Mouvement Dada, erhält man den Eindruck einer Subversionsfolklore. Das ist aber ein Missverständnis. Der Dadaismus steht nicht für Spielerei, für Aberwitz oder gar Vergnügen, jedenfalls nicht von seinem Ursprung her. „Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit“, heißt es bei Hugo Ball, dem Spiritus Rector des Unternehmens. Bei Ausbruch des Krieges hatte er sich noch freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert. Kurz danach begab er sich an die lothringische Front, begegnete der Fratze des Krieges mit eigenen Augen und notierte: „Was jetzt losgebrochen ist, das ist die gesamte Maschinerie und der Teufel selber. Die Ideale sind nur aufgesteckte Etikettchen. Bis in die Grundfeste ist alles ins Wanken geraten.“ Schlagartig war er von den Lügen der Propaganda geheilt. Das war seine erste Konversion.

Das Ergebnis dieses radikalen Umdenkens zeigt sich zu Beginn des Jahres 1915 in einer „Gedächtnisfeier für gefallene Dichter“, und zwar für deutsche und französische, die Ball gemeinsam mit dem Autor, Psychoanalytiker und Kriegsdienstverweigerer Richard Huelsenbeck in Berlin veranstaltet. An diesem Abend stellen die beiden ihr erstes „Literarisches Manifest“ vor, worin es heißt: „Wir wollen: aufreizen, umwerfen, bluffen, triezen, zu Tode kitzeln, wirr, ohne Zusammenhang, Draufgänger und Negationisten sein.“ Kurz danach trifft die Diseuse Emmy Hennings in Berlin ein, die Ball ein Jahr davor in München kennen- und schätzen gelernt hat. Sie war im Sommer 1914 wegen „Beischlafdiebstahls“ im Gefängnis gesessen. Ball hatte sie dort besucht und ermutigt. In Berlin veranstaltet das illustre Trio nun „Expressionistenabende“. Dabei werden Gedichte von Nietzsche und Rilke mit musikalischer Begleitung rezitiert, Johannes R. Becher und Emmy Hennings lesen eigene Gedichte, Richard Huelsenbeck stellt erstmals seine „Negergedichte“ vor. Das Interesse am Primitivismus außereuropäischer Kulturen steigt proportional mit der Selbstzerstörung der europäischen Zivilisation.

Künstlerkneipe Voltaire wird eröffnet

Die Abende in Berlin sind nicht erfolgreich, nur 30 Leute waren da, fast alles Bekannte, gesteht Ball in einem Brief. Sie sind aber Probeläufe für die Veranstaltungen, die Anfang 1916 in der bald nach der Eröffnung in Cabaret Voltaire umbenannten Künstlerkneipe in Zürich stattfinden. Im Mai 1915 erhält Hugo Ball aus Zürich von dem Altösterreicher Walter Serner eine Einladung zur Mitarbeit an der pazifistischen Zeitschrift „Der Mistral“. „Franzosen arbeiten mit, Italiener. Mich zieht es auch dorthin.“ Und so verlassen Emmy Hennings und Hugo Ball Ende Mai mit dünnem Portemonnaie, leichtem Gepäck, aber großen Hoffnungen Berlin in Richtung Zürich. Statt auf Franzosen und Italiener treffen sie jedoch auf Russen. „Der Mistral“ wird gerade eingestellt, dafür gibt es die Chance, am „Revoluzzer“ mitzuarbeiten. Diese Zeitschrift wird von den Exilrussen um den Arzt und linksradikalen Sozialisten Fritz Brupbacher betrieben. Das richtige Umfeld für jemanden, der sich gerade in die Schriften Bakunins und Kropotkins vertieft. Hugo Ball tritt in seine revolutionäre Phase.

Damit gerät er ins Visier der schweizerischen Staatsmacht, die ihm ein Passvergehen zur Last legt und ihn inhaftiert. Nach seiner Entlassung steht er mittellos da und beneidet die Fische um die Köder, die ihnen die Angler am Zürichsee zuwerfen. Also heuern Emmy und er in einem kleinen Varieté an, sie als Soubrette, er als Pianist und Kapellmeister, und träumen vom eigenen Ensemble. Das ist – nach Karl Piberhofers Recherchen – die Zeit, in der Balls „Totentanz1916“ entstanden ist. „So morden wir, so morden wir / Und morden alle Tage / Unsere Kameraden im Totentanz. / Bruder, reckDich auf vor mir! / Bruder, Deine Brust! / Bruder, der Du fallen und sterben musst.“ Diese sarkastische Umdichtung des berühmten Dessauer Marschs, eines Herzstücks des preußischen Militarismus, erscheint im „Revoluzzer“ als makabre Neujahrsbotschaft. Von Emmy mit kreischender Stimme à la Janis Joplin vorgetragen wird dieses Memento mori für Ball wenige Wochen später zum Herzstück seines Cabarets.

Zum Jahreswechsel erhält die Idee zur Gründung eines eigenen literarischen Kabaretts Auftrieb. Ball wird von Leonhard Frank, René Schickele, Else Lasker-Schüler bestärkt. Er inseriert in der Zeitung für Mitstreiter und sucht nach Huelsenbeck. Kurz vor der Eröffnung tauchen vier sinistre Gestalten in der Spiegelgasse auf: Marcel Janco, Künstler und Architekt aus Bukarest, sein Bruder Georges, sein schreibender Freund Sami Rosenstock, später bekannt unter dem Nom de Plume Tristan Tzara, und der elsässische Maler und Lyriker Hans Arp, der später noch seine Schweizer Freundin Sophie Taeuber einbringt. Sie bilden, mit der Sonne Emmy im Mittelpunkt, die Urplaneten des dadaistischen Kosmos.

Bei der ersten Soiree werden Verse von Blaise Cendrars, Jakob van Hoddis, Max Jacob, Wassily Kandinsky, Else Lasker-Schüler und Franz Werfel gelesen. Ball begleitet auf dem Klavier Chansons von Aristide Bruant und Erich Mühsams „Revoluzzerlied“. An den Wänden hängen Blätter von Janco und Picasso. „Das Lokal war überfüllt, viele konnten keinen Platz mehr finden“, schreibt Ball in sein Tagebuch. In der Folge gibt man mal mehr, mal weniger gelungene Soireen zu einzelnen Ländern. Auch ein russischer Abend ist dabei. Ob der damals in der Spiegelgasse 14 ansässige Russe Wladimir Iljitsch Uljanow daran teilnimmt, ist ungewiss. Die Spekulationen darüber haben den Franzosen Dominique Noguez jedenfalls zu seinem dadaistischen Essay „Lenin dada“ inspiriert.

Viele Texte sind in dem aufwendig gestalteten „dada-Almanach“ nachzulesen. Eine dadaistische „Jahrhundertgeschichte“ des Mouvement gibt Martin Mittelmeier. Darin beschreibt er auch die Namensfindung: „Tzara ist das Wort am 8. Februar 1916 um sechs Uhr abends eingefallen. Es ereignete sich im Café de la Terrasse in Zürich, als Arp gerade eine Brioche im linken Nasenloch trug.“ Dada ist, wenn jeder sich seine eigene Erklärung bastelt. Nach einem anstrengenden knappen halben Jahr, kommt es, sicher nicht zufällig am 14. Juli, im Zunfthaus Zur Waag zum „1. Dada-Abend“. Und damit zum Angelpunkt der Bewegung.

Einer, der wie kaum ein anderer verstand, worum es ging, war der in Wien geborene Friedrich Glauser, der tangential an die Dadaisten anstreifte. „Auch die Syntax, die doch Rimbaud noch vermehrt hatte, musste, weil bürgerlichen Ursprungs, getötet und zersprengt werden“, schrieb er im Rückblick. Dada ist das metaphysische Gestammel über eine Welt, die kein Sinn mehr zusammenhält. „Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die Sprache zu verzichten“, heißt es in Balls Eröffnungsmanifest. Kurz davor hatte er die neue Gattung der „Verse ohne Worte oder Lautgedichte“ entwickelt. In einer eigens dafür angefertigten, kubistischen Montur lässt er sich auf das Podium heben, auf dem an allen drei Seiten gegen das Publikum Notenständer stehen. Dann legt er sein mit Rotstift gemaltes Manuskript abwechselnd auf die drei Notenständer und singt, wie er es nennt, seine „Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile“: „gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori.“

Da steht er nun als magischer Bischof und zelebriert seine Gegenmesse. Gegen waffensegnende Priester zum Beispiel. Vor allem aber gegen eine missbrauchte Sprache. „Mithilfe der Sprache gelang es, das Morden zu rechtfertigen. Und der Versuch, mithilfe von Worten, von Sätzen, dieses Morden zu bekämpfen, musste von vornherein naiv und unmöglich erscheinen“, so Glauser. Nun haben es liturgische Riten und Zeremonien so an sich, selbst noch in ihrer ironischen Brechung die Geltung der Religion zu beschwören. Das bekommt Ball zu spüren.

Ernst bleiben, um jeden Preis

Im Verlauf der Rezitation gerät er vor die Alternative, in Blödelei abzudriften oder ernst zu bleiben. Ein entscheidender Moment. Für ihn persönlich, aber auch für die Dada-Bewegung. Es kommt ihm die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation in den Sinn, er sieht jenes „halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatpfarrei zitternd und gierig am Munde des Priesters hängt“. Und er entscheidet sich, ernst zu bleiben, „um jeden Preis“, wie er später notiert. Eine Art Damaskuserlebnis. 1920 tritt er wieder der katholischenKirche bei, die er 1912 verlassen hat.

Die Dadaisten hingegen entschieden sich für das Gelächter. Dementsprechend glitt die Bewegung allmählich in den Ulk ab. Bei ihnen geriet die Technik des Zerlegens und Neukombinierens der Sprache zur Lockerungsübung. Tristan Tzara etwa empfahl zur Verfertigung eines dadaistischen Gedichts, die Worte eines Zeitungsartikels auszuschneiden, sie in eine Tüte zu stecken, leicht zu schütteln und in der Reihenfolge aufzuschreiben, in der sie aus der Tüte kommen. Ball wollte der entleerten und geschundenen Sprache eine eigene entgegensetzen, Tzara hingegen macht die Wörter bedeutungslos. Konsequenterweise heißt es in seinem Manifest von 1918: „Dada ist das Wahrzeichen der Abstraktion; die Reklame und die Geschäfte sind auch poetische Elemente.“ Mit dem heiligen Ernst des Hugo Ball hatte das nichts mehr zu tun.

Für Ball endete Dada am Pfingstsonntag 1917. Die anderen zerstreuten und zerstritten sich, bildeten neue Zentren und kippten zuletzt ins Absurde. Was das Mouvement Dada im Ursprung war, beschrieb Glauser so: „Ein Versuch, die Hilfsmittel zu zertrümmern, die der Materialismus sich angeeignet hatte, um seine Welt zu verteidigen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2016)

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