Das radikal Böse und das banal Böse

Bettina Stangneth lädt zu einem Dialog zwischen Kant und Arendt über das Böse ein – mit einer überraschenden Wendung.

Die freiberufliche deutsche Philosophin Bettina Stangneth wurde durch ihre Intervention in der lange unterdrückten Debatte über Kant und seine doch ein wenig merkwürdigen Kommentare zu „Race“ bekannt. In ihrem Buch „Eichmann vor Jerusalem“ – schon der Titel spielt auf Hannah Arendts berühmten Prozessbericht „Eichmann in Jerusalem“ an – zeichnete sie das Porträt und rekonstruierte die Öffentlichkeitsarbeit des in Argentinien untergetauchten Massenmörders: selbstbewusst, unbelehrbar und um die Deutungshoheit über seine geschichtliche Rolle kämpfend. Dieser Eichmann hatte wenig gemeinsam mit dem subalternen Angeklagten, den Arendt erlebt hatte und an dem sie die „Banalität des Bösen“ beobachtete. Der um sein Leben kämpfende Eichmann hatte Theater gespielt und nicht nur Arendt getäuscht. Seither wurde versucht, Stangneth als Kronzeugin gegen den provozierenden Begriff von der „Banalität des Bösen“ zu instrumentalisieren. Dagegen protestiert sie entschieden: Die Kategorie stimmt, doch bedarf sie einer Präzisierung, und das Beispiel war falsch gewählt.

Jede Zeit fordert neue Begriffe; was das Böse betrifft, lädt die Autorin zu einem Dialog zwischen Kant und Arendt ein. Jener hatte in seiner „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ den Begriff des „radikal Bösen“ eingeführt; eine verschwommene, missverständliche Bezeichnung, zumal sich die Bedeutung von „radikal“ gewandelt hat. Kant versteht darunter keineswegs einen im modernen Sinn besonders „radikalen“ „Willen zum Bösen“, sondern den Umstand, dass wir zwar eine vernunftbasierte moralische Anlage haben, uns dafür durchaus bewundern und sie dennoch in unserem Verhalten oft ignorieren: Das moralische Gesetz ist uns nur ein Antrieb unter vielen – unsere Lust an der Freiheit lässt sich von unserer Vernunft häufig nicht einschränken. Das Radikale im ursprünglichen Wortsinn liegt also in unserer tief sitzenden Inkonsequenz. Die Kant'schen „radikal Bösen“ wissen um ihre Schuld. Hier liegt die Differenz zu den „banal Bösen“ der Hannah Arendt. Diese erleben ihr Selbstverhältnis als widerspruchsfrei: Sie denken einfach nicht, aus Verführbarkeit, aus falschem Vertrauen, aus Konformismus oder Reduktion der Kriterien für das Richtige auf Loyalität. Sie handeln schlecht, wissen das im Nachhinein auch, doch ihr Gewissen ist gut, weil sie die böse Absicht leugnen.

Aus dieser Beschreibung leitet Stangneth eine Ergänzung des Sittengesetzes durch die „Pflicht zum Denken“ ab, einem Denken, das bewirkt, dass eine universell gedachte, von Europa unabhängige Moral sich von selbst versteht. Doch Denken ist in der gelebten Praxis keineswegs frei von Elementen, die das „banale“ und das „radikale“ Böse stützen. Der bloße Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, reicht nicht. Stangneth ortet eine neue Spielart des Bösen, das „akademische“ Böse. Pioniere waren hier Nazi-Philosophen, die Kant mangelnden Heroismus vorwarfen, weil er den Kampf ins Subjekt verlagert hätte. Ihre Nachfolger in einer unübersichtlichen Welt mit ungewissen Identitäten finden sich in Medien und Bildungsinstitutionen: Denker, die dem Bösen ein gutes Gewissen verschaffen.

Das klingt überzeugend, doch leider verflacht das Buch allmählich, das recht scharfsinnig begonnen hat: Vom Täterverständnis gegenüber islamistischen Terroristen über die Jugendlichen und ihre digital dominierte Lebensform bis zu den Billigkäufern führt uns die Autorin ihre gesammelten Ressentiments ein wenig ungeordnet, aber emotional aufgeladen vor. ■

Bettina Stangneth

Böses Denken

256 S., geb., € 20,60 (Rowohlt Verlag, Reinbeck)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.