Das Leben als Doku-Soap

Petra Piuks Roman über den Schein, der die neue Realität ist.

Petra Piuks „Lucy fliegt“ ist ein Roman über eine junge Frau, die es eilig hat, berühmt zu werden – immerhin ist sie schon 23 Jahre alt. „Soll sie warten, bis sie dreißig ist und alt und faltig im Gesicht? Das wäre ja noch schöner!“

Als ich, alt und faltig im Gesicht, Piuks Debütroman, „Lucy fliegt“, aufschlage, sehe ich rechts unten neben den Seitenzahlen ein kleines Flugzeug. Lesende mit einem Faible für originelle Details der Buchgestaltung wie ich blättern vielleicht auch gleich das ganze Buch durch und stellen fest: Wie in einem Daumenkino fliegt das Flugzeug beim raschen Durchblättern der Seiten herum. Damit steht fest, dass der Verlag Kremayr & Scheriau seine Bücher mit aufmerksamer Liebe zum Detail gestaltet. Nicht der Detailverliebtheit wegen, sondern durchdacht, schließlich befindet sich Piuks Heldin Lucy in der Tat den ganzen Roman lang in einem Flugzeug von Wien nach L. A. (oder vielleicht doch nur nach Düsseldorf?), um dort eine Rolle in einem Hollywoodfilm zu spielen (oder vielleicht doch nur als Teilnehmerin einer Doku-Soap, um den Titel „Hollywood-Mega-Star“ kämpfend?). Wir fliegen mit und erfahren so allerlei Episoden aus Lucys Leben, die Piuk im Gedankenfluss ihrer Heldin als Rückblenden erzählt. Ist man spielerisch veranlagt und blättert man das Daumenkino zu Beginn der Lektüre gleich durch, wird man jedoch sehen: Dieses Flugzeug fliegt mit Turbulenzen, überschlägt sich am Ende und stürzt ab.

Piuk gibt ihrer Lucy eine starke Stimme, deren Naivität komisch, tragisch und mitleiderregend zugleich ist. Fein austariert ist Piuks Situationskomik, als Lucy melodramatisch über Selbstmord sinniert, sich jedoch rechtzeitig besinnt: „Aber dann hab ich mir gedacht, wenn ich von der U-Bahn überfahren werde, bin ich komplett entstellt, und ich hab mir ja die Nägel frisch lackiert.“ Gott sei Dank gibt es auch Selbstmorde, nach denen man noch gut aussieht, „Schlafmittel. Pulsadern. Oder einschlafen in der Badewanne.“

Lucy möchte dem sozialen Gefüge, in das sie hineingeboren wurde – Jugend im Floridsdorfer Gemeindebau, Schulabbruch, die Mutter arbeitet am Würstelstand, der Vater hat die Familie früh verlassen –, entfliehen. „Ich bin halt immer so, wie mich die anderen sehen wollen“, sagt sie, und man möchte sie an der Hand nehmen und ihr bei der Suche nach ihrem Platz in diesem Leben helfen. Keine Bezugsperson übernimmt dies im Roman statt uns, und so verschwimmen Realität und TV-Show in Lucys Wahrnehmung immer mehr. Sie vergisst, dass man Freunde im „echten Leben“ braucht, und nicht auf Facebook, dass zwischen „echten Gefühlen“ und Selbstinszenierung ein Unterschied besteht und dass Sex eigentlich Spaß machen und kein Mittel sein sollte, um sich beliebt zu machen.

Bevor Lucy einen Platz bei „Hollywood-Mega-Star“ bekommt, besucht sie einige Monate eine drittklassige Schauspielschule. Als das erste gemeinsame Stück erarbeitet wird, bekommt Lucy die Rolle der Blanche in Tennessee Williams' „Endstation Sehnsucht“ dann doch nicht. Vielleicht ist es Petra Piuks große Leistung, ihrer Lucy etwas von Tennessee Williams' Blanche – „I don't want realism . . . I'll tell you what I want. Magic!“ – zurückgegeben zu haben. Blanche in der digitalisierten Postmoderne. In jüngerer Version ohne Falten im Gesicht. ■


Petra Piuk liest am 4. August im Rahmen der „O-Töne“ im Haupthof des Wiener Museumsquartiers aus ihrem Roman. Beginn: 20 Uhr.

Petra Piuk

Lucy fliegt

Roman. 192 S., geb., € 19,90 (Kremayr & Scheriau Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2016)

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