Kalt wie das Weltall

Terézia Moras Band „Die Liebe unter Aliens“ versammelt elf Erzählungen. Nüchtern, ohne Umschweife, treffsicher erzählt sie darin vom versehrten Leben und entwickelt Figuren, die an Ödön von Horváth erinnern.

Bis nach Berlin schallt der Ruf von der Marathonstadt Wien. Einmal im Jahr an dem Gemeinschaftslauf dort teilzunehmen, sich mit Gleichgestählten zu messen und die Luft der fremden Stadt in sich aufzusaugen ist einem 57-jährigen Frührentner an der Spree die ganzjährige Ertüchtigung wert. In seiner Umgebung wird der einstige Zugschaffner ob dieser sportlichen Vorliebe längst Marathonmann genannt. Als ihm beim Laufen in seinem Bezirk der Plastiksack mit Geld und Schlüssel weggerissen wird, beginnt er zu rennen. Damit hat der Dieb nicht gerechnet: dass da einer, der aussieht wie siebzig, losstürmt wie ein Junger.

Der Marathonmann läuft und läuft, immer hinter dem jungen Dieb her, der seinerseits Fersengeld gibt. Der ältere Mann kommt in Stadtteile, die er nicht kennt, „bis er schließlich das Gefühl hat, gar nicht mehr in seiner eigenen Stadt zu sein“. Irgendwann springt eine Ampel auf Rot, und der Verfolger verliert die Spur des Diebes. Erst jetzt, als ihm klar wird, dass ein Fremder sich mit seinen Schlüsseln Zutritt zur Wohnung verschaffen könnte, gerät er in Panik.

„Fisch schwimmt, Vogel fliegt“ heißt diese erste Geschichte im neuen Band der unter der deutschen Minderheit in Ungarn geborenen Autorin Terézia Mora, die seit 1990 in Berlin lebt und auf Deutsch schreibt. Schon dieser Erzählauftakt zeigt: Es geht um Fremdheit, Verlorenheit, Leere. Und um den plötzlichen Ausbruch aus der gewohnten Eintönigkeit des Tages.

Ausbrechen aus der vorgezeichneten Enge ihres Milieus wollen auch Tim und Sandy. Der Freundin des Kochlehrlings gelingt dies bei einem Ausflug ans Meer, doch nur um den Preis des spurlosen Verschwindens. Der Junge und seine geduldige Chefin müssen sie suchen. Doch als all ihre Bemühungen vergeblich bleiben, verlässt auch Tim seine Lehrstelle, macht sich unversehens aus dem Staub. Man könnte „Die Liebe unter Aliens“ als Neigung zum Vagabundenleben bezeichnen, doch solche Romantik verfehlt die Zwänge des heutigen Daseins.

Die Figuren in Terézia Moras elf Erzählungen sind in der Routine des Alltags verloren. Sie arbeiten als Krankenpfleger, Küchengehilfe, Zoowärter, Nachtportier, Zimmervermieter, angehende Fotografin. Alle treibt der Wunsch nach Veränderung um, ein Vorschein von Glück. Damit verdienen sie sich die Anteilnahme des Lesers.

Mit bewundernswerter Konsequenz hält Terézia Mora an ihrem Vorhaben fest, als Erzählerin der Vereinzelung des Menschen in einer zunehmend undurchdringlicher werdenden Gesellschaft wie auch ihrer Gegenwehr auf die Spur zu kommen. Das begann bereits mit den glasklaren Geschichten ihres Debütbands, „Seltsame Materie“, die noch dort angesiedelt sind, wo die 1971 in Sopron geborene Autorin zweisprachig aufwuchs: im Grenzland Ungarns am Neusiedler See. Das setzte sich in dem viel beachteten Dolmetscherroman „Alle Tage“ fort und erweiterte sich zuletzt in der Trilogie um den IT-Spezialisten Darius Kopp, dessen Weg sie bisher in den Bänden „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009) und „Das Ungeheuer“ (2013) verfolgt hat. Das Schlussstück der Trilogie fehlt noch.

An der Art, wie diese Schriftstellerin ihre Milieus untersucht, spürt man die Neugier einer Feldforscherin. Die Menschen, über die sie in „Die Liebe der Aliens“ schreibt, sind alles andere als erfolgsverwöhnte Vorwärtsstürmer. Im Gegenteil: Ihre Helden gehören zu den Leisetretern auf dem Lebensweg, sie finden sich ausschließlich unter den Zögerern und Zaghaften, oft genug auch unter den Abwärtsrutschenden und Verzagten der Gesellschaft. Ihre Geduld ist längst in Ungeduld umgeschlagen, ihre Gewöhnung in Abwehr.

Sätze wie Seziermesser

Nicht wenige der geschilderten Männer verwinden ihre Scheidung nicht. Da ist der sich überfordert fühlende Rezeptionist, der durch seine ständigen Nachtdienste nicht nur sämtliche Freunde, sondern auch die Frau verloren hat: „Sie verließ ihn, weil er nachts arbeitete und tagsüber schlief, und wenn er wach war, kaum ein Wort sagte.“ Da ist der einsame Sanitäter Tom, der damit hadert, dass er seinen achtjährigen Sohn nur jedes zweite Wochenende zu Gesicht bekommt. Und da ist der Tierpfleger Erasmus Haas, der es nach seiner Scheidung nicht wagt, die angestrebte Prüfung zum Verwaltungsangestellten abzulegen, und sich stattdessen dem exzessiven Alkoholkonsum ergibt.

Die junge Frau Ella hingegen, die in einem Fotostudio in der Hauptstadt arbeitet, sucht alles daranzusetzen, ihren halbwüchsigen Sohn nicht länger nur am Sonntag bei ihren Eltern auf dem Land besuchen, sondern bald zu sich nehmen zu können. Mora setzt ihre Sätze wie Seziermesser. Nüchtern, ohne Umschweife, treffsicher erzählt sie vom versehrten Leben. Ihre präzisen Beschreibungen des urbanen Milieus samt seinem prekären Souterrain entwickeln einen unabweislichen Sog. Dabei besteht das Raffinierte an ihrem lakonischen Erzählstil darin, dass Mora gewissermaßen in ihre Figuren hineinhorcht, deren Bewusstseinsstrom aber jeweils jäh unterbricht, um in eine Außensicht von deren Handlungen zu wechseln. Das verstärkt den Eindruck ihrer Unstetigkeit.

Vollends ausgesetzt in der Fremde fühlt sich Masahiko Sato, ein in Deutschland lehrender Japanologe, als er aus Altersgründen seine Professur abgeben muss. Er irrt ziellos in der Stadt umher, die er bisher überhaupt nicht gekannt hat: Sein Weg hat jahrelang nur von seiner Wohnung zur Universität und zurück geführt. Im Schaufenster einer Reinigung erblickt er ein Votivbild aus dem Tempel seiner Kindheit. Die japanische Frau im Geschäft weckt sein verschüttetes Heimweh. Doch eine Rückkehr nach Japan erweist sich, nach einem missglückten Versuch, als Schimäre. Sein eingebildetes Glück bleibt eine platonische Vorstellung: die Ergebung in den schönen Schein.

Mora entwickelt Figuren, Lebensbilder wie von Horváth. Ihre Erzählungen legen frei, wie viel Spannung in unserem banalen Alltag steckt. Die Menschen geraten „vollverkabelt in die Einsamkeit“, wie das bereits vor Jahrzehnten der früh verstorbene Essayist Michael Schanze feststellte.

„I am an alien / I am a legal alien“, singt der britische Barde Sting. Es ist ein sehr fröhliches Lied. Terézia Mora erzählt vom wirklichen Leben unter Aliens. „Kalt wie das Weltall“ nennt der Junge Tim einmal die Atmosphäre in einem Einbettzimmer, in dem er sich mit Sandy ein Einzelbett geteilt hat, „das so hart war, wie sie das in ihrem kurzen, abwechslungsreichen Leben noch nicht erlebt hatten“. Sie suchen vergeblich das, was die Behörde im Prüfungspapier für den Tierpfleger so unnachahmlich bürokratisch formuliert hat: „das Schutzgut des menschlichen Lebens“. ■

Terézia Mora

Die Liebe unter Aliens

Erzählungen. 272 S., geb., € 22,70 (Luchterhand Literaturverlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.