Vor dem Tribunal des Vaters

„Nirgendwo im Haus meines Vaters“: Mit ihrem autobiografisch getönten Roman beschreibt die Algerierin Assia Djebar die Liebe einer Frau zu ihrer Heimat und die Unmöglichkeit, als Frau darin Heimat zu finden. Berührend.

Verschüttete Stimmen suchte die Autorin, Filmemacherin und Historikerin Assia Djebar stets in ihren literarischen Werken und Filmen zu bergen und zu Gehör zu bringen, Stimmen von Frauen, die in ihrer Heimat Algerien im mehrfachen Sinn des Wortes „verhüllt“ waren: ihre Körper durch den Schleier versteckt vor den Augen Fremder, ihre Geschichten verborgen, weil sie nie Schrift wurden, und weil es für eine Frau verpönt war, öffentlich ihre Stimme zu erheben. Kein Wunder, dass Djebar, die ihre Bücher auf Französisch schreibt, jener Sprache, die sie mit „Beau de l'air“ und Literatur in Berührung gebracht hat, mit der Paronomasie zwischen „J'ecris“ (ich schreibe) und „Je crie“ (ich schreie) arbeitet: Dem Schrei entspricht das Schreiben als ein Akt des Widerstandes, des Öffentlichwerdens, des Aufbegehrens, des Heraustretens.

In Romanen wie „Fantasia“ wandte Djebar sich der mündlichen Überlieferung der Berberfrauen zu und schrieb mit ihnen die Geschichte des vergewaltigten Algeriens um. Es sind unter anderem ihre Ahninnen, denen sie sich verbunden weiß und denen sie ihre Stimmeverlieh, diese starken, aber stummen, diese rebellischen, aber verschwiegenen Ahninnen „in diesem angeblich befreiten Land, in dem alle Töchter ungestraft von den Söhnen ihrer Väter um ihr Erbe betrogen werden“.

Ihr Romandebüt feierte Fatima-Zohra Imalayène 1957 mit „La Soif“, den sie unter dem Pseudonym Assia Djebar veröffentlichte – das Pseudonym diente als Schleier, als Schutz. Jahrzehntelang hat Djebar – pendelnd zwischen Paris und Algier, zwischen Europa und den USA – Literatur geschrieben, Reden gehalten, Filme gemacht, Preise erhalten – bis sie 2007 mit „Nirgendwo im Haus meines Vaters“ eine Art Autobiografie vorlegte, die nun auf Deutsch erschien, und in der sie nach ihrer eigenen verschütteten, verstummten Stimme sucht.

In kleinen Schritten, die ihr nicht leichtzufallen scheinen, nähert sich Djebar einem Ereignis in ihrem Leben als Studentin, über das sie Jahrzehntelang geschwiegen hat. 1936 wurde sie in Cherchell, einer kleinen Küstenstadt bei Algier, geboren. Und wenn sie von ihrer Kindheit und Jugend erzählt, beschreibt sie zugleich die Situation der Frauen, aber auch das gespaltene Algerien vor dem Unabhängigkeitskrieg: „Die Kolonie, sie bringt die Spaltung in die Welt.“ Da sind die einen und die anderen, die französischen Lehrer und der einheimische Lehrer, der Vater, dessen Anerkennung sie sucht. Die Europäerinnen, die „nackt“, also ohne Schleier, gehen dürfen, und jenes Mädchen Fatima, das als Fünfjährige stolz dem Vater die eben erworbenen Fahrradkünste zeigen will, sich aber aus heiterem Himmel unkontrollierter Wut und Feindseligkeit gegenübersieht, als „hätte plötzlich eine dunkle Macht von ihm Besitz ergriffen: Ich möchte nicht, dass meine Tochter aufs Fahrrad steigt und ihre Beine zeigt!“

Fatima versteht nicht – und versteht doch: Sie soll Teile ihres Körpers, der sich lebendig fühlt, Fahrrad fahren, laufen, tanzen will, gleichsam amputieren, ihren Körper zerstückeln. Ganz anders ist da die Erfahrung mit der Mutter, die im Zufluchtsort der Frauen, dem Hamam, die Füße der Tochter segnet: „Auf dass du beschützt wirst! Zuerst deine Füße, damit du nicht ausrutschst.“

Der Vater ist gebildet, liebt seine Frau, spricht Französisch und glaubt an die Französische Revolution, isst mit seiner Familie nicht am niedrigen Tisch der Einheimischen, sondern wie die Europäer – und dennoch zitiert diese Stimme des wütenden Vaters noch Jahre danach die Tochter vor das männliche Tribunal, dessen Macht in der Hochzeitsnacht üblicherweise an den Ehemann übergeben wird. Den Brief eines Unbekannten zerreißt der Vater voller Wut in tausend Stücke und Djebar erzählt von den drei Sünden danach: diesen Brief erstens dennoch zu lesen, zweitens zu beschließen, ungehorsam zu sein und sich mit dem Briefschreiber zu treffen, und drittens, eine List anzuwenden. Die „Liebesbriefe“, die sie Tarik in der Folge schreiben wird, sind weniger Dokumente der Liebe zu einem jungen Mann als die einer Liebe zu einer alten Sprache, nämlich der vorislamischen Poesie, die sie sich von ihrem Zukünftigen übersetzen lässt, weil sie ihre Muttersprache, die außerhalb der Schule von 90Prozent der Bevölkerung gesprochen wird, auch als Literatursprache lernen will.

Djebar erzählt in vielen Bildern, die sie hin- und herwendet, wie um zu prüfen, was sie verraten. Manchmal erzählt sie wie von innen heraus als Ich, manchmal sich wie von außen beobachtend als Du, manchmal erzählt sie über ihr Leben wie über eine literarische Figur, und plötzlich nimmt sie die distanzierte Position einer sarkastischen Fremden ein, wie um die Fragen der Öffentlichkeit, der Kritiker vorwegzunehmen: „Enteignet? Wirklich, und was stachelt Sie dazu an, darüber zu schreiben? Warum es auf diese Weise in alle Winde hinausschreien?“

Wie Djebar im Nachwort schreibt, handelt es sich weder „um ein zwanghaftes Bedürfnis, sich zu entblößen, noch um das lockende Gespenst der Autobiografie – diesen ,säkularisierten‘ Ersatz für die Beichte in der westlichen Literatur.“ Seit Jahrzehnten schreibt sie „Geschichten über Frauen, junge Mädchen, die sich alle befreien wollten“– nun erzählt sie jene Szene im Oktober 1953, ihren eigenen Aufstand gegenüber dem Verlobten, aber auch gegen ihr eigenes Leben, ein Jahr vor Ausbruch des Algerienkrieges am 1.November 1954: „Wenn mein Vater das erfährt, bring ich mich um!“ Beide Versuche missglückten: Sie überlebte und mit dem Mann, gegen den sie sich auflehnen wollte, verbrachte sie danach noch 21 Jahre, davon 15 Jahre verheiratet – erstarrte Jahre. „Sich selbst gegenüber zu verstummen. Das war das Schlimmste.“

Ein berührender „Roman“, auch, weil man ihm die Mühen der Entstehung anmerkt, und weil er neben der persönlichen Lebensgeschichte auch die Liebe einer Frau zu ihrer Heimat und die Unmöglichkeit, in ihre Heimat zu finden, erzählt. „Warum kannst du dir in der letzten Phase deines Lebens nicht mit so etwas wie Gelassenheit, mit sanfter oder gleichgültiger Akzeptanz dessen, was ist, sagen: Wäre es nicht endlich an der Zeit, wenn auch nur allmählich, das Glimmen zu ersticken, das niemals gelöscht wurde? Eine Frage, die sicherlich nicht nur du dir stellst, sondern auch alle anderen Frauen von dort, vom südlichen Ufer des Mittelmeeres. Warum, warum nur haben ich und all die anderen Frauen keinen Platz, ,nirgendwo im Hause meines Vaters‘?“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2009)

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