Im wässrigen Horizont

Poetisch, politisch und ein differenziertes Bild vom Schwarzen Meer: über die Anthologie „Odessa Transfer“.

Es ist schon einige Zeit her, da gehörte das Schwarze Meer geschichtlich ganz eng zu Europa, bespülte seine östlichen Küstenländer, bildete die natürliche, im wässrigen Horizont gelegene Grenze zu Asien und trieb sein zwitterhaftes Wesen zwischen „Zivilisation“ und „Barbarentum“. Über einen langen Zeitraum hinweg schien es ruhig an diesen Gestaden, ein stillgelegter Blick vom europäischen Kernland her. Der Kalte Krieg machte diesen Raum zum toten Raum, während das Leben an den Ufern des Schwarzen Meeres weiterging und sich nur dann meldete, wenn Katastrophen (wie etwa der Tschetschenienkrieg) sich zu Wellenbergen aufgetürmt hatten, deren Fluten nicht länger zu übersehen waren. Mit der Eingliederung Rumäniens und Bulgariens in die Europäische Union bildet das Schwarze Meer nun politisch korrekt wieder den östlichen Meeresflügel Europas, gleichsam seinen linken Arm, und öffnet seine ruhelosen, poetisch begabten Räume einer gemeinsamen Zukunft.

Katharina Raabe, Lektorin für osteuropäische Literaturen im Suhrkamp Verlag, und Monika Sznajderman, die den Verlag Czarne in Wolowiec/Südpolen leitet, hatten den Wunsch, mit „Odessa Transfer“ eine Art Atlas des neu entstehenden europäisch-asiatischen Raumes herauszugeben. 13 Autoren, die aus den Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres stammen, diese bereist haben oder sich eng mit deren Geschichte verbunden fühlen, schreiben poetisch-politisch über die Landschaften zwischen Krim und Kaukasus, von der türkischen Nordküste bis zum Donaudelta. Entstanden ist eine gelungene Anthologie aus literarischen Reportagen, Erzählungen, Essays und einem Gedichtzyklus sowie einer Fotostrecke rund um das Schwarze Meer, wobei der Titel „Odessa Transfer“ auf die vielschichtigen, imaginären wie realen Reisen anspielt.

Der Schriftsteller und Kritiker Karl-Markus Gauß berichtet in seinem Beitrag „Die unaufhörliche Wanderung“ von den Volksgruppen, die der jungen Stadt Odessa – wie auch den Schwarzmeerküsten – ein stets neues Gesicht verliehen haben. Gegründet 1794 (von Katharina der Großen), zu einer Zeit, da die Krankheit des Nationalismus noch nicht wütete, versammelte diese Stadt, die bald zur bedeutendsten Hafen- und Handelsstadt am Schwarzen Meer heranwuchs, Menschen aus aller Welt: Griechen, Juden, Deutsche, Russen, Ukrainer, Polen, Briten, Türken, Armenier, Bulgaren, Moldawier und Levantiner. Sie machten Odessa zu einer „Genie-Erzeugungsanstalt“ (Gauß). Wassily Kandinsky, Isaak Babel, Anna Achmatova oder Alexander Puschkin, um nur einige zu nennen, waren geprägt von der freigeistigen Offenheit, wie sie Städten zu eigen ist, die das Meer nicht als Begrenzung, sondern als Raum von Möglichkeiten begreifen. Dieses Odessa aber gibt es heute nicht mehr.

Alle Autoren dieses Buches sind Berichterstatter dessen, was sich an den Küsten
des Schwarzen Meeres ereignet hat: die Vertreibung von Völkern, ethnische Säuberungen und die Vernichtung kultureller Identitäten, die Auslöschung vieler Sprachen, Verbannung und politische Unterdrückung sowie wirtschaftliche Miseren. All das scheint sich im Meer dunkel zu bewahren, gleich einem kollektiven Gedächtnis, das diese Wasser nicht zuletzt auch mit der Sintflut in Verbindung bringt. Der Schriftsteller Atilla Bartis, der aus einer ungarischen Minderheit in Rumänien stammt, beschreibt seine Reise zum Donau-Schwarzmeer-Kanal, die Sprachlosigkeit, die ihn angesichts der Geschichte – Arbeitslager, politische Häftlinge – ergreift, und er imaginiert, wie nicht nur Rumänien, sondern der ganze Balkan in den Fluten des Meeres verschwindet. „Hass kann nicht mit Hass, nur mit Wasser bereinigt werden“, lautet ein türkisches Sprichwort, das dem Essay der türkisch-deutschen Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar zugrunde liegen könnte. Sie erinnert an den Armenier Hrant Dink, dessen türkische Mörder vom Schwarzen Meer kamen.

Die Darstellungen von der südwestlichen Hälfte des Schwarzen Meeres camouflieren in Hassliebe. Der Norden jedoch, vor allem die Krimhalbinsel, gehört zu den ersehnten Glückslandschaften der russischen Riviera, wie auch die subtropischen Paradiesküsten Abchasiens. Selbst Leo Trotzki war ihrem einlullenden Charme erlegen und verschlief seinen historischen Auftritt gegen Stalin, wie Neal Ascherson, der wohl beste Kenner der Schwarzmeerregion, erzählt. Der in Edinburgh geborene, vielfach ausgezeichnete Journalist verfasste eine literarisch-historische Studie über das „Schwarze Meer“, die 1996 auch auf Deutsch erschienen ist. In „Odessa Transfer“ bietet er mit seiner Analyse zum kaukasischen Fünf-Tage-Krieg Einblicke in die politischen Seiltänze und leisen Annäherungsversuche Abchasiens an die Europäische Union.

So vermittelt dieser Band ein differenziertes Bild vom Schwarzen Meer, das, so viel ist gewiss, auch künftig für Überraschungen sorgen wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2009)

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