Der neue Hochgatterer: Kriegsende aus Kinderaugen

Der neue Hochgatterer: Nelli landet im Oktober 1944 traumatisiert auf einem Bauernhof. Kraft gibt ihr das Eintragen des Geschehens in ein Heft.

„Sie sagen, ich heiße Nelli. Manchmal glaube ich es, manchmal nicht.“ Nelli ist angeblich 13 Jahre alt und im Oktober 1944 nach einem Bombardement über Linz als traumatisierte Waise auf einem Gehöft im Mostviertel einquartiert worden. Sie redet nicht viel. Aber sie beobachtet, führt einen eigenen Kalender und notiert, was ihr wichtig erscheint. Das Heft dafür hat sie von Laurenz bekommen, dem Bruder des Bauern, der seine eigenen Geheimnisse pflegt. Nelli ist nicht der einzige Schützling, aber sie ist diejenige mit einem Gespür für private Geschichten und den Möglichkeiten persönlicher Wahrheiten.

Es folgt der letzte Kriegswinter. Jede Familie im Dorf ist bereits verwundet, trägt schwer an einer Tragödie, rackert sich ab zwischen vager Hoffnung, Warten und dumpfer Ergebung. Nelli beobachtet. Und Laurenz beobachtet Nelli in ihrer Zuneigung zu den Bauernkindern, dem Verstehen-Wollen von familiären Tragödien, dem Suchen nach Gründen für Tun und Lassen. Denn dass Gerechtigkeit von Personen und ihren Charakteren abhängt, und nicht von den Gesetzen des Staates, das weiß Nelli schon. Und dass sich daher bei jeder wichtigen Entscheidung das Gewissen einschaltet und den Verlauf der Geschichte ändern könnte, ahnt sie. Der Erzähler spielt mit diesen Ahnungen. Nelli bekommt einiges an Anschauungsunterricht im Dorf, von den Nachbarn, von ihrer Bauernfamilie, von den Ausgebombten und Umherirrenden.

Im Frühjahr 1945 – Gerüchte nehmen zu, Flüchtlinge ziehen durch – kommt der junge Russe Michail auf den Hof. Er spricht gut Deutsch und trägt ein zusammengerolltes Bild mit sich, von dem er sagt, es sei sein Einziges, das er habe retten können und das er keinem zeigen wolle. Ein Maler, den die Mädchen anhimmeln und die Männer gut genug leiden, um ihn durchzufüttern. Laurenz entschließt sich Ende März 1945, Nelli in seine Geheimnisse einzuweihen.

Die neue Saat wird ausgebracht, als sich zwei Gefreite unter dem Kommando eines Leutnants einquartieren. Etwas ist hier anders als bei den meisten Kriegserzählungen, obwohl die Ausgangslage vertraut klingt. Paulus Hochgatterer gelingt ein Kunststück: Er wählt eine begrenzte Perspektive, und doch gerät es zu einem faszinierenden Rundumblick. Ein Mädchen, zu früh ins Erwachsensein gestoßen, mit den zentralen Fragen alleingelassen, irritiert mit ihrer ruhigen Neugier, der Auswahl an Berichtenswertem, einer seltsamen Mischung aus dosiertem Mitgefühl und fehlender Trauer.

In Details versteckt der Autor den historischen Ablauf, die Verankerungen finden nur dort statt, wo Nelli sie wahrnehmen muss. So entsteht eine ganz besondere Stimmung. Hochgatterer entwickelt in dem ländlichen Kammerstück Tableaux vivants, die sich teils widersprechen, teils übereinanderlegen, als schüttelte Nelli ein Kaleidoskop. Wegen dieser Einschübe entsteht ein Ganzes, das aufrührt und im Gedächtnis hängen bleibt wie die Geschichten, die jeden betreffen, weil sie von jedem handeln könnten.

„So wäre es also gewesen“ und „So hätte es sich am ehesten abgespielt“ überlegt Nelli. Doch trotz Gewalt und Bösartigkeit erzählt alles von Liebe. Sie weiß es noch nicht, weil ihre Bestandsaufnahme der Welt von zum Teil zwänglerischen Aufzählungen und kindlicher Unerfahrenheit geprägt ist, aber sie folgt zielsicher dem Vorhandensein von Liebe in jeder Form. Und das, was sie nicht wissen kann, formt Hochgatterer zu einer Parallelgeschichte, eine tröstende Version anbietend. Es könnte so gewesen sein. Es könnte Hoffnung für uns alle geben. ■


Im Rahmen des O-Töne-Festivals liest Paulus Hochgatterer am 10. August aus seiner Erzählung: im Haupthof des Wiener Museumsquartiers, Beginn: 20.30 Uhr.

Paulus Hochgatterer

Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war

Erzählung. 112 S., geb., € 18,50 (Deuticke Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2017)

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