Der Mund von Frost gefesselt

Rudolf Kalmars wiederentdeckter Nachkriegsroman.

Der promovierte Staatswissenschaftler Rudolf Kalmar (1900 bis 1974) schrieb eines der faszinierendsten Bücher der österreichischen Literatur nach 1945: Die Misserfolgsgeschichte seines Romans „Zeit ohne Gnade“ erzählt die wortreich verschwiegenen Geschichten des österreichischen Wiederaufbaus.

Kalmar, Publizist und Herausgeber der linksliberalen Blätter „Tag“ und „Morgen“, wurde am 17. März 1938 verhaftet und erreichte am 1. April mit dem ersten Österreicher-Transport als politischer „Schutzhäftling“ das Konzentrationslager Dachau. Leopold Figl, Alfons Gorbach, Alfred Maleta, Viktor Matejka – schon alleine die Namen seiner Mithäftlinge machen klar, dass dort die nach 1945 viel beschworene Lagergemeinschaft über alle ideologischen Grenzen hinweg den Alltag prägte.

Als Kalmar 90 Monaten nach seinem Abtransport vom Westbahnhof durch die Ruinen Wiens geht, erschüttert ihn das Leid der Opfer des Bombenkrieges. Der Autor gesteht einem amerikanischen Germanisten 1947 in einem Brief: „Ich kann nicht hassen.“

„Zeit ohne Gnade“ muss den Vergleich mit den großen Lager-Romanen von Imre Kertész, Herta Müller oder Aleksandar Tišma („Kapo“) nicht fürchten. Er montiert seine Vergangenheit: Abtransport, (Über-)Leben im KZ und seine Heimkehrer-Gegenwart zu einem Text mit atemberaubenden Sog aus präzise beschriebenen Fragmenten einer unvorstellbaren Realität. Die Sprache ist schnörkellos. Emotionen werden durch Aussparung spürbar: „Der Mund, vom Frost noch gefesselt, versagte und nur die Augen stellten ihre erstaunte, eher erschrockene Frage.“ Begreifbar wird, dass manche Antworten nicht gegeben werden können, weil das von Kalmar Erlebte letztlich nicht beschreibbar und schon gar nicht erklärbar ist.

Kein Interesse an Heimkehrern

Rudolf Kalmar war seiner Zeit weit voraus. Während Volksgerichte in Anwendung des am 26. Juni 1945 erlassenen Kriegsverbrechergesetzes begannen, ihre Schuldsprüche zu fällen, interessierte sich acht Jahre vor dem „Förster vom Silberwald” (1954) niemand für einen Dachau-Heimkehrer, der nicht verschwieg, was (ihm) Mitbürger (an)getan hatten. Seine Geschichte erschien zunächst neben anderen Naziverbrecher-Berichten und Häftlingstagebüchern ab 26. Oktober 1945 als vielbeachtete Artikelserie „Schutzhäftling Nr. 1042 erzählt“ in der „Wiener Wochenausgabe“, der Roman folgte im September 1946. Die (inter)nationalen gesammelten Rezensionen füllten eine Mappe, doch schon im Dezember klagt der Autor über den schleppenden Verkaufserfolg. Weder die Übersetzung ins Englische noch eine Verfilmung konnte realisiert werden.

Dass es dieses Buch wieder gibt, verdanken wir den Germanisten Stefan Maurer und Martin Wedl, die den Roman nicht nur kommentierten, sondern in ihren den Nachwörtern editorisch sorgfältig auch die Entstehungsgeschichte und den soziokulturellen Hintergrund packend beschreiben. Die Notwendigkeit ihres Projekts erkennt man unter anderem daran, dass 65 Jahre nach Kriegsende nicht daran erinnert wird, sondern dass jemand wie Barbara Rosenkranz Bundespräsidentin werden will und die „Krone“ dazu jubelt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2010)

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