Wer vergisst, fängt an zu sein

Die Arbeit des Erinnerns: Maria Stepanovas große Erzählung von der eigenen Familie.

Ein interessanter Lapsus ist Suhrkamp hier passiert: Die Genrebezeichnung des im russischen Original „Erinnerungen Erinnerungen“ genannten Buches von Maria Stepanova lautet „romans“. In der Übersetzung mutiert „Nach dem Gedächtnis“, wie diese Romanze, dieses Lied, etwas schwerstiefelig auf Deutsch heißt, zum Roman. Das passt nicht ganz, es sei denn, man hält sich an Stepanova selbst und ihre Bemerkung, was sie schreibe, sehe nicht mehr „wie eine respektable wissenschaftliche oder kriminalistische Untersuchung aus, sondern wie ein Freud'scher Familienroman“.

Zwischen dieser erschöpften, ehrlichen Feststellung und dem Anfang liegen mehrere Hundert Seiten, die mehr Essay als Roman sind. Man braucht etwasZeit, bis man in diesen streckenweise höchst privaten Text hineinfindet, und erst mag eine leichte Enerviertheit auftauchen, weil auch die Autorin Zeit braucht. Zunächst hängt ein leicht klinischer Geruch an dem Text, eine gelehrte Distanz. Ich könnte mir vorstellen, wie eine blutjunge Studentin verlegen googelt, was denn „Tropen“ bedeutet, weil sie zu Recht vermutet, dass die sepiabraunen Palmenfotos, die vor ihrem inneren Auge auftauchen, nicht damit gemeint sind. Im ersten Drittel dieses Buches fühlt sich die Lektüre manchmal so an, als stünde man in der Reihe an der Supermarktkassa hinter einem Mann in schwarzem Rollkragenpulli, der irgendwas von „Postmemory“ ins Handy plappert, während er der Kassierin einen Geldschein hinhält, ohne sie anzusehen.

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