Tiere sehen dich an

Tiere essen bedeute „Krieg“, meinte schon Tolstoi, und Schlachthäuser seien nicht von Schlachtfeldern zu trennen. „Tiere essen“: Jonathan Safran Foers literarisch virtuoses Sachbuch über industrielle Masttierhaltung, Schlachthöfe und Gewinnmaximierung.

Die Welt ist ein dunkler, dunkler Ort.“ Wie die Vorgartenidyllen vonDavid Lynch kaschiert auch der Anblick friedlicher Rinder, gackernder Hühner oder rosiger Ferkel doch nur den reinen Horror – und das gleich milliardenfach. Weltweit stehen 450 Milliarden Nutztiere in Massentierhaltung. Und ein US-Bürger, männlich, Lebenserwartung 77 Jahre, isst durchschnittlich 7,39 Tonnen Fleisch – Frauen etwas weniger.

Aber darf man Tiere essen? Und wenn ja, ist das unumgängliche Schlachten schon eine Art Mord? Und wie viel Qual, denn ganz ohne Qual geht es beim großen Sterben nicht, ist beim Schlachten oder schon vorher bei der Mast erlaubt? Indem er solche Fragen stellt, macht Jonathan Safran Foer das Essen von Fleisch zum Teil des moralischen Systems für jeden Einzelnen.

Das Motiv des Autors, „Tiere essen“ zu schreiben, war die Frage, was er nun seinem kleinen Sohn über das Fleisch erzählen sollte. Dabei ist der 1975 geborene Foer, durch seine Romane „Alles ist erleuchtet“ und „Extrem laut und unglaublich nah“ bekannt geworden, nicht der Einzige, der sich über das fragwürdige Verhältnis des Menschen zum Tier äußert. J. M. Coetzee, der Nobelpreisträger von 2003, lässt seine „Elizabeth Costello“ im gleichnamigen Buch viel radikaler Stellung beziehen. Foer ist kein eifernder Vegetarier, statt eines Entweder-Oder geht es dem Autor jüdisch-galizischer Herkunft vielmehr darum, beim Leser eine eigene, bewusste Haltung gegenüber dem Genuss von Fleisch zu provozieren. Würden etwa alle US-Amerikaner nur einmal pro Woche Fleisch essen, bedeutete das 200 Millionen geschlachteter Tiere weniger. Und außerdem Abgase von fünf Millionen Lastwagen, die man der Umwelt ersparte. Gerade diese Versöhnlichkeit macht „Tiere essen“ in der Menge des zu diesem Thema bereits Erschienenen einmalig. Foers Ziel ist nicht ethische Reinheit, sondern: die Welt (vor allem für Tiere) besser zu machen.

Für Foer beginnt das zentrale Problem mit der Anwendung industrieller Produktionsweisen auf die Tierhaltung. 1923 erhält die amerikanische Hausfrau Celia Steele statt 50 Küken irrtümlich 500 geliefert. Sie riskiert, alle 500 aufzuziehen; drei Jahre später hat sie bereits 10.000 Hühner, 1935 sind es 250.000. Für solche Mengen braucht es nicht nur in der Aufzucht und Haltung, sondern auch beim Schlachten Rationalisierung. Die Tiere werden ohne Rücksicht auf ihren Biorhythmus zu vielen Tausenden in Hallen zusammengepfercht, automatisch gefüttert, ihre Schnäbel werden gekürzt. Foer zitiert Tolstoi, demzufolge Schlachthäuser nichtvon Schlachtfeldern zu trennen sind und Tiere essen „Krieg“ bedeutet. Gegenwärtig trifft diese Kriegsmetapher vor allem auf den Fischfang zu. Die Ozeane werden 2048 geleert sein, wenn die „Überfischung“ mittels Radar, Echolot, mit Dynamit gefüllter Harpunen – vieles davon stammt aus den modernen Waffenkammern – anhält.

Indem Nutztiere auf Kostenfaktoren im Gewinnschöpfungsprozess reduziert werden, verlieren sie jeden Anspruch auf ihre Kreatürlichkeit. Zwischen 1935 und 1995 stieg das Durchschnittsgewicht eines Masthuhns um 65 Prozent, der Futterbedarf sank um 57 Prozent. Drei von vier Hühnern haben Schwierigkeiten beim Gehen. Praktisch alle Hühner sind mit dem Bakterium E.coli infiziert (im Supermarkt noch 39 bis 75 Prozent), acht Prozent haben Salmonellen.

Allen technischen Fortschritten zum Trotz bleibt es immer noch schwierig, widerspenstige Tiere dem präzis getimten Ablauf eines Schlachthofes anzupassen. Die Berichte über die unterbezahlten, überforderten Schlächter sind ähnlich beklemmend wie jene über Rinder, die lebendig gehäutet und zerteilt werden. Am meisten freilich bedrückt Foers Schilderung, wie alternative Züchter vergeblich nach kleineren, nachgerade „menschlicheren“ Schlachthöfen suchen.

Foer hat einen neben seiner thematischen Brisanz literarisch bemerkenswerten Text geschrieben. Virtuos verwendet er unterschiedliche literarische Genres für seine immense Informationsmenge. In „Geschichten“ beginnt der Autor mit Erinnerungen an die Fleischmahlzeiten bei seiner Großmutter und seiner Verantwortung für den eigenen Sohn. In „Wörter“ erklärt er in lexikalischer Form Begriffe und Schlagwörter, wobei er Widersprüche und Unsinnigkeiten ironisch aufdeckt. „Verstecken/Suchen“ schließlich handelt von seinen heimlichen Expeditionen in die künstlich beleuchteten Hades-Hallen der Mastviehhaltung. Die emphatische Sachlichkeit, mit der Foer das Scheinleben der geschundenen Tiere beschreibt, gehört zu den eindrucksvollsten Abschnitten seines Buches. Fast avantgardistisch wirken dagegen die fünf Seiten des Abschnitts „Einfluss/Sprachlosigkeit“, dessen 21.000 Buchstaben die Zahl der Tiere angibt, die für die Ernährung eines jeden US-Amerikaners sterben. Niemals denunziert Foer die Fleischproduzenten, mit denen er spricht; er lässt sie im Gegenteil mittels (fiktiver) Rollenprosa ihre Strategien erläutern, die sehr oft fremdbestimmt durch die großen Fleischkonzerne sind.

Foers Werk erinnert mich an Hemingways Stierkampfbuch „Tod am Nachmittag“. Bei aller Gegensätzlichkeit des Themas (und der Autoren) drücken beide Bücher den gleichen Respekt für das individuelle Leben und Sterben von Tieren aus: einen Respekt, der mit technischer Rationalität unvereinbar ist. Pendant dieser technischen ist eine ökonomische Rationalität, deren alles dominierende Gewinnmaximierung durch scheinbar niedrige Verbraucherpreise legitimiert wird. Aber jeder Burger um 50 Cent, schreibt Foer, zieht Umweltkosten in der Höhe von 200 Dollar nach sich. Nach manchen Quellen ist die Fleischproduktion für 18 Prozent der Erderwärmung ursächlich, andere Quellen beziffern diesen Anteil deutlich höher. Foer führt die ungeheuren Mengen Gülle (Jauchepest) an, die ganze Flüsse vergiften, die gesundheitlichen Schäden der Anrainer von Schweinemastbetrieben und eine generelle Anfälligkeit durch den Verzehr der mit Antibiotika vollgestopften Tiere.

Foers „Tiere essen“ hat durch seine Faktenmenge alle Eigenschaften eines Standardwerks. Darüber hinaus weist das Buch auf aktuelle Entwicklungen in benachbarten Feldern hin. Wissenschaftlich wird die Grenze zwischen Tier und Mensch als immer durchlässiger gesehen. Und neben dem Tierschutz und der Diskussion von Tierrechten wächst das Interesse der Philosophie am Tier „als anderes“. Es entwickelt sich ein weiter gefasster „Prozess der Zivilisation“ (Norbert Elias), der sich nicht nur auf Tischsitten bezieht, sondern auch auf das, was man isst. Foer schreibt, dass 18Prozent der US-Studenten Vegetarier sind – eine Zahl, die jene der katholischen Studenten übersteigt. Und die Zahl der Veganer, die nicht nur auf Fleisch (Vegetarier), sondern auf Tierprodukte (Milch, Käse, Eier) überhaupt verzichten, ist im Steigen begriffen. Da nimmt es nicht wunder, dass Vertreter der Fleischindustrie die Vegetarier öfters als Terroristen bezeichnen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2010)

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