Nicht Maas, nur Memel

„Die Memel“: Der Berliner Publizist Uwe Rada schreibt kenntnisreich die ganz Europa prägende Kulturgeschichte eines Stromes, der so manche nationale Fantasie entzündet hat.

Wer im Vorjahr sah, welches Großereignis das 600-Jahr-Jubiläum der Schlacht von Tannenberg in Litauen oder in Polen war, und weiß, wie entscheidend für die Zukunft Europas diese endgültige Niederlage des hinter christlicher Maske so kriegslüsternen Deutschen Ordens und die so festgelegten Grenzen waren, der kann nicht begreifen, dass bei uns kaum der Name dieser Schlacht bekannt ist, geschweige denn ihr Datum. Das historische Gedächtnis ist auf West- und Mitteleuropa beschränkt – oder was man eben hier dafür hält. Und interessiert man sich für entferntere Gebiete, dann lieber gleich für etwas richtig Exotisches in anderen Erdteilen. So versinkt der Rest Europas im finsteren Loch eines undifferenzierten „Ostens“, und das beginnt schon mit der Geografie. Claudio Magris, Peter Esterházy oder Karl-Markus Gauß haben mit ihren Donau-Büchern zum Glück viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber ein durch seinen Faktenreichtum wie seine Brillanz außergewöhnliches Buch über die Memel, konzipiert als „Kulturgeschichte eines europäischen Stromes“, wird kaum wahrgenommen.

Uwe Rada, Publizist und „taz“-Redakteur in Berlin, kennt die Bilder des verlorenen Ostens in Deutschland und setzt sich auch mit dem Vers „Von der Maas bis an die Memel“ im „Deutschlandslied“ auseinander, aber er kennt ebenso die polnischen Träume von den Ostgebieten. Dass er selbst nicht der Nostalgie verfällt, erstaunt weniger, als dass er sie nicht einfach verständnislos vom Tisch fegt. Stattdessen richtet er einen genauen Blick auf die Memel und entwickelt aus der Geografie Analysen von Geschichte und Gegenwart. Dabei hat er Detailkenntnisse nicht nur über Litauen und das Kaliningrader Gebiet, zwischen denen die Memel über eine lange Strecke die Grenze darstellt, sowie über Polen, für das die Memel ein Markstein der Vergangenheit ist, sondern auch über Weißrussland, wo die Memel 462 ihrer 937 Kilometer fließt. Man erfährt etwas über Schifffahrt, Flößer und Holzhandel, aber vor allem von der Geschichte, etwa von dem 1807 auf der Memel ausgehandelten Frieden von Tilsit zwischen Frankreich, Russland und Preußen.

Ein Glanzstück ist die Darstellung jüdischen Lebens – Rada zeigt: Die Memel „ist zuallererst ein jüdischer Strom gewesen“ – und seines schrecklichen Endes: Von den 820.000 Juden in Weißrussland haben nur 120.000 bis 150.000 überlebt; in Litauen waren es fünf Prozent von etwa 250.000. Radas Darstellung geht immer in die Details, auch bei den Stadtgeschichten. Kaunas, Litauens „provisorische Hauptstadt“ von 1929 bis 1939, kommt in den Blick, die Hafenstadt Klaipéda, das weißrussische Grodno und natürlich Kaliningrad. Selbst die Kurische Nehrung mit dem Sommerhaus Thomas Manns und ihrer Künstlerkolonie, mit der Größen wie Lovis Corinth in Beziehung standen, rückt ins Bild; und viele kleine Orte wie Smalininkai, das ehemalige ostpreußische Schmalleningken, das bis 1918 die Grenzstation zwischen russischem Zaren- und deutschem Kaiserreich war. Der Autor hat auch abseitige Gebiete bereist und berichtet von alten und neuen regionalen Identitäten. Sogar den letzten Urwald Europas hat er aufgesucht, wo sich am 8. Dezember 1991 Russlands Präsident Boris Jelzin, der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk und Weißrusslands damaliger starker Mann Stanislaw Schuschkewitsch trafen, um im „Geheimtreffen von Belowesch“ die Sowjetunion für aufgelöst zu erklären.

Bewundernswert ist die Souveränität, mit der Uwe Rada sein Material zu erzählen weiß. Er lässt viele Interviewpartner und Zeitzeugen zu Wort kommen und Mikrogeschichten entwickeln, er zitiert aus unterschiedlichsten Quellen (auch das Literaturverzeichnis ist eine Fundgrube!), verliert dabei jedoch die zentralen Fragestellungen nie aus dem Blick. Beeindruckend auch die Kenntnis der Literaturen der Länder um die Memel. Da wird Adam Mickiewiczs Versepos „Pan Tadeusz“, das mit „Litauen, du mein Vaterland“ beginnt, nicht nur in seiner Bedeutung für Polen und Litauen gezeigt, sondern auch für Weißrussland, wo in Baranowitschy sein Geburtshaus steht.

Natürlich ist Czesław Miłosz präsent, dessen 100. Geburtstag Polen und Litauen mit einem Miłosz-Jahr begehen; und deutsche Autoren wie Johannes Bobrowski, Ernst Wiechert, Arnold Zweig oder Victor Klemperer, bei denen Litauen eine Rolle spielt. Aber Rada kann auch mit litauischer und weißrussischer Literatur argumentieren, er kennt zahlreiche Filme, und wenn man sein Porträt des polnischen Rockstars Czesław Niemen liest, der im weißrussischen Städtchen Stare Wasilischki geboren wurde, glaubt man, ohne seine CDs nicht mehr auszukommen, selbst wenn man kein Polnisch kann.

Aber ob der Autor nun individuelle Biografien oder die Geschichte der litauisch-polnischen Adelsrepublik erzählt, nichts ist Selbstzweck oder leere Wissensdemonstration – immer geht es um die Fragen nach der „richtigen“ Erinnerungskultur und vor allem um das Europa von heute. So resümiert er an der undurchlässigen EU-Außengrenze Schriftsteller von Miłosz bis Jurij Andruchowytsch unter folgender Utopie: „In Zukunft wird es ein Europa geben, das besteht zwar immer noch aus Staaten und Nationen, aber auch aus Menschen, die mit Sorge beobachten, wie sich der Westen in seinem Wohlstand einmauert und der Osten in seinen letzten Großmachtträumen Zuflucht sucht. Dagegen setzen sie auf ein freies Europa, dem der Mensch mehr ist als Arbeitskraft, der Wald mehr als Rohstoffquelle und ein Fluss mehr als eine Wasserstraße. Ein Europa, das Grenzen nicht mehr duldet und auch nicht mehr braucht, weil in diesem Europa nicht mehr Ost und West aufeinanderprallen – schließlich ist in seiner Mitte etwas entstanden, was, wie schon einmal in der Geschichte, auf beide Seiten ausstrahlt.“

Die Mitte Europas sieht in Berlin offensichtlich anders aus als in Wien. Beim Nachdenken über die „scheue Liaison“ zwischen Flüssen und Literatur fällt Uwe Rada ausgerechnet die Donau nicht ein. Wenn die Europa-Wahrnehmung schon in Deutschland und Österreich so unterschiedlich ist – wie wichtig ist dann der Dialog darüber? Über Europa ohne Kenntnis des Memel-Buches von Rada zu sprechen wäre jedenfalls dumm und gefährlich. Etwas Besseres lässt sich darüber kaum sagen – außer, dass es eben auch ein besonderer Lesegenuss ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2011)

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