Geniali Leopoldi

237 Lieder, die Präziseres über Österreich und den österreichischen Menschen erzählen als Bibliotheken von Sozialstudien: Das Werk des großen Hermann Leopoldi liegt endlich gesammelt vor. „Leopoldiana“: eine Liebeserklärung.

Seine Melodien leben manchmal mehr im Gedächtnis breitester Hörerkreise als diejenigen Mozarts. Er ist noch ein Schlagerverfasser im besten Wortsinn gewesen. Mit ihm geht man allemal frech-verschämt gemeinsam auf eine Überlandpartie, hutscht auf dem schönen Ringelspiel, bekennt sich als stiller Zecher mit Wohnsitz in einem kleinen Café in Hernals, dort Powidltatschkerln verspeisend, oder fordert überhaupt sein Schnucki auf, nach Kentucky zu fahren und dort in der Bar „Old Shatterhand“ eine Indianerband spielen zu hören, danach aber in die Pampas auf a Flaschn Schampas auszuweichen.

Zwei dicke Bände sind vom Wiener Volksliedwerk herausgebracht worden, wichtig, toll, Noten, „Leopoldiana“.

Hermann Leopoldi hat nämlich gemeinsam mit mehr als zwei Dutzend ebenso herausragender und hintergründiger Textautoren ein paar Hundert Lieder hinterlassen, welche die österreichische Seelen mit all ihren Gefährlichkeiten, Abgründen und Hedonismen besser charakterisieren als halbe Sozialstudien-Bibliotheken. Dieses Österreich, dessen Leute er besang wie fast niemand sonst im 20. Jahrhundert, dem er in Lebensgefahr entkommen ist.

Damals, als Österreich sich temporär selbst umgebracht hat. Österreich und seine Menschen.

Leopoldi der Österreich-Ziselierer.

Komm gurgeln nach Gurgl, komm laufen nach Laufen, komm baden nach Baden bei Wien!

Er, Hermann Leopoldi (1888 bis 1959) arbeitete mit Textern zusammen, welche der deutschen Sprache neue Aspekte gegeben haben. Ein paar Namen, eine tatsächliche und nicht eine – wie sonst üblich – eher grauenhafte Walhalla: Karl Bernstein, Robert Gilbert, Hans Haller, Peter Herz, Robert Katscher, Fritz Löhner-Beda, Karl Pollach, Rudolf Skutajan, Erwin Spahn, Theodor Waldau. Viele ihrer Liederstrophen, die schrägen Vergleiche oder Metaphern sind zu Topoi, zu Witzen über uns selbst und zugleich deren Brechung geworden, zu speziellen Austriaka. Und sie sind ein Zeitspiegel.

Die „Leopoldiana“ (der einzige Einwand: Es wurde das in zwei riesigen Blöcken ediert, gebunden, als Noten- und Textausgaben, aber so schwer, dass man sie kaum zum lockeren Wiedergeben halten kann oder aufs Klavier platzieren) bestehen aus 237 Liedern von Hermann und elf vom Bruder Ferdinand Leopoldi. Georg Traska, Ronald Leopoldi (der Sohn) und Christoph Lind haben aus Nachlass, Sammlungen und Archiven einen weitgehend, wie man hofft, vollständigen Werkeabdruck (mit guten Registern) zusammengetragen und aus Originalausgaben sowie Familienquellen und Transkriptionen mit Hilfe der öffentlichen Hand vorgelegt. Wir können jetzt im riesigen Fundus blättern, können Bekanntes und verblüffend Neues mit- und nachsingen – sowie dabei gleich ein halbes Jahrhundert rekonstruieren.

Anfang der Zwanzigerjahre ist man noch nostalgisch-offen, verklärt Wien und schaut auf Novitäten (Jazz, Amerikana, Film). Dann leuchten die jeweils schweren Zeiten herein, Österreich, das arme Land, Österreich das Ständestaatgebilde. Ab Mitte der Dreißiger werden Österreich und seine Gegenden mit letzten Aufgeboten von Witz und Sehnsüchten verteidigt. Nach 1947, der Gentleman Leopoldi ist ein fast immer milder, kaum je sarkastisch werdender Kommentator des Nachkriegslandes und des Wiederaufbaus.

Bloß als Beispiele für all solche Österreich-Historien und exemplarisch: 1928 – „Der Völkerbund“, eine politische Satire. 1934 – „Erst kommt Österreich!“. 1947 – „I brauch an Ziegelstein, a Fensterscheib'n, a Vorhängschloss, dann wär ich für den Augenblick die größten Sorgen los.“ Ein Bilderbogen, eigentlich ein Kolossalgemälde über und aus Österreich, von diesem Hermann Leopoldi und seinen von ihm vertonten Autoren, der Mann mit Stimme und Instrument. Bis 1937 war er die liebenswürdige Zentralgestalt am Klavier, der Star des Landes; dann kamen die Schergen, kam Buchenwald, er hatte gerade noch vorgesorgt, vor allem aber ungemein viel Glück, er kam los/aus und zurück nach Wien, erreichte die USA (und war dort im Gegensatz zu vielen anderen sogar erfolgreich); Ferdinand, der im Untergrund zu überleben versucht hatte, starb 1944 nach einem Gestapo-Verhör; Hermann kehrte 1947 zurück, im Gegensatz zu vielen anderen hat man ihn zurückgeholt. Mit neuer Partnerin, Helly Möslein, wurde er abermals – oder eigentlich ungebrochen – zum Publikums- und Radioliebling. Bis zum Schluss blieb er oft witzig-abgeklärt (tatsächlich?), nachdenkend und von faszinierender Produktivität.

Viel vom Wiener Kabarett nach 1950 ist ohne ihn nicht denkbar, was auch Kapazunder wie Gerhard Bronner oder Georg Kreisler (der genauso wie Roland Neuwirth eine berührende Einbegleitung verfasst hat) gern zugeben. Und noch etwas. Man beschreibt in den Bänden mit Musik diesen Hermann Leopoldi stets als zutraulichen, als sentimentalen, im Grunde aber optimistischen Menschen. Beschämend für die Nachgeborenen. Und: Wer konnte derartig über Bereiche drüberspringen, die heute entweder von verbissenen Weltmusikeiferern oder von Religionsfreaks mit überbordender Correctness (von den Gender-Bewegten erst gar nicht zu reden) rundum abgelehnt würden?

Der Leopoldi – über allem stehend in tänzerischer und rhapsodischer Persiflage, im schon zitierten Lied vom Schnucki, das man nach Kentucky zu entführen gedenkt.

Nachdem einem jungen Indianermädchen seitens ihres Werbers bereits der Marterpfahl angedroht worden ist, meint die resolute Dame noch: „Du willst mich wirklich ma'tern? Das sag ich meinem Vatern. Wenn ich ihm schreib nach Idaho; dann ist er nächste Woche da. Als Häuptling der Comantschen wird er dir eine pantschen. Das kann ich wirklich nicht riskiern, drum lass ich mich verführn.“ Aber dann – als Schluss, im beschwingten Foxtrott jede Religion damit aufhebend: „Minnesota, Hiawatha, Manitou, der Himmelvater, schuf die Liebe und den Suff. Biffalo-Buff, uff, uff, uff.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2011)

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