Dunkler, mestizischer, revolutionärer

Michael Zeuske dekonstruiert den Mythos von Simon Bolívar. Autoren, die über Simón Bolívar, den Befreier Südamerikas vom spanischen Joch, schreiben, pflegen dicke Bände vorzulegen.

Autoren, die über Simón Bolívar, den Befreier Südamerikas vom spanischen Joch, schreiben, pflegen dicke Bände vorzulegen. Kein Wunder, denn allein die gesammelten Reden, Erlässe, Dekrete, Dokumente, Briefe und Proklamationen des Revolutionärs, der 1830 erst 47-jährig starb, ergeben an die 30 Bände. Michael Zeuske kommt mit 128 Textseiten (plus 42 Seiten mit Zitaten und Literatur) aus. Ein schmaler Band also, der jedoch viel bewirken könnte. Denn indem Zeuske der tradierten Wirklichkeit misstraut und sich auf zwei alternative Themenbereiche (Bolívar-Mythos und Bolívar-Kult) konzentriert, schiebt er das Biografie-Schreiben konventioneller Historiker in den Müll. Das macht es einem Leser, der nicht mit venezolanischer oder südamerikanischer Geschichte vertraut ist, schwer, weil er die Grunddaten selber nachschlagen muss. Eine detaillierte Landkarte der Region hilft auch.

Wichtiger als eine gestückelte Wirklichkeit ist einerseits der Bolívar-Mythos: eine Mischung aus narrativen, oralen, diskursiven sowie visuellen Elementen, die 200 Jahre lang ständig neu aufgelegt wurden und mehrere Stilumformungen erlebten. Hingegen besteht der Bolívar-Kult aus ritualisierten Handlungen, die zunächst dazu dienten, den venezolanischen Staat zu begründen. Heute wird der Kult legitimierend als eine Art profanes Theater zu den üblichen Staatsfeiern, garniert mit einer Vielzahl von Bolívar-Statuen in ganz Südamerika, vorgeführt. Damit lässt sich das Wesentliche der venezolanischen Geschichte erklären, die heute im „chavinistischen Bolívar“ – ausschließlich das Sozialrevolutionäre betonend – gipfelt. Somit fungiert der Bolívar-Kult heute als eine Art zivile Staatsreligion.

Das eigentlich Faszinierende an diesem Buch findet sich in einem Subtext. Zeuske, heute Lateinamerika-Professor in Köln und Meister der Geschichtsschreibung über die atlantische Sklaverei, wuchs in der DDR auf, wo seine Lehrer-Väter Manfred Kossok und Max Zeuske eine orthodoxiefreie Revolutionsgeschichte Lateinamerikas zu begründen suchten. In Köln steuerte der Historiker Günter Kahle die westliche Variante bei. Ihnen allen galten nur die archivarischen hard Facts eines „objektiven“ Wissens als legitim.

Zeuske-Sohn gehört einer Generation an, die den Glauben an objektivierte Historie zugunsten einer globalen Kulturgeschichte mit raschen Paradigmenwechseln aufgab. So konnten die Bolívar-Mythen in den Mittelpunkt geschoben und dekonstruiert werden. Der „weiße“ Aristokratensohn Bolívar wird dabei immer dunkler, mestizischer und revolutionärer. Als Gabriel García Márquez damit seinen Bolívar-Roman („Der General in seinem Labyrinth“) bestritt und ihn außerdem im Scheitern enden ließ, gab es wütende Attacken seitens der Traditionshistoriker.

Ein Exkurs über Bolívar und Humboldt liefert Amüsantes. Für praktisch alle Historiker gilt ein Treffen zwischen dem jungen Bolívar und Alexander von Humboldt 1804 in Paris als erwiesen. In einer schonungslosen Text-Archäologie kann Michael Zeuske herausschälen, dass es dieses Treffen nie gegeben hat. Vielmehr wurden die Gespräche von dem Arzt-Historiker Aristides Rojas im 19. Jahrhundert erfunden, um den Bolívar-Mythos durch Humboldts virtuelle Handauflegung zu erhöhen. Präsident Hugo Chavez profitiert heute noch davon. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2011)

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