Was ich lese

Als ich mit einem Oberschenkelbruch im Spital lag, versuchten Freunde mein Gemüt aufzuheitern. Sie dachten an heitere Lektüre.

Evelyn Grill, Schriftstellerin, geboren 1942 in Garsten, lebt in Freiburg

Als ich mit einem Oberschenkelbruch im Spital lag, versuchten Freunde mein Gemüt aufzuheitern. Sie dachten an heitere Lektüre. Ich bekam zwei Bücher von Allan Bennett, die sehr amüsant zu lesen gewesen wären, aber ich brauchte nichts Amüsantes, das machte mich nur noch trauriger. „Der Sommer ohne Männer“ von Siri Hustvedt war dabei. Der hatte ein so gutes Ende, dass ich weinen musste. Bitte, flehte ich meine Besucher an, keine Romane mehr mit Happy End, sonst springe ich aus dem Fenster.

Schließlich brachte mir eine Freundin ein schmales Bändchen mit dem Titel Das Mädchen von Angelika Klüssendorf (Kiepenheuer & Witsch). Sie habe es in der „Kulturzeit“ angepriesen gehört. Die Moderatorin habe sich an die Kehle gefasst, das Buch sei so entsetzlich, dass sie es freiwillig niemals lesen würde, aber literarisch großartig. Der Rezensent fand es hochliterarisch, gab zu, es sei keine leichte Kost, aber ein wichtiges Buch aus dem proletarischen Milieu.

Ich griff voll Erwartung danach. Schonauf der ersten Seite fliegt Scheiße durch die Luft. Das war vielversprechend. Ich lasdas Buch, es war wirklich deprimierend, es gab kein Happy End, allerdings flogen Schmetterlinge am Schluss an Stelle der Scheiße. Zwischendurch artete der Roman in eine Pubertätsproblematik aus, ich musste mich mit den nichtwachsenden Brüsten der Protagonistin auseinandersetzen. Schließlich hatte ich einen Jugendroman gelesen, nicht schlecht, aber für meine Befindlichkeit auch nicht das Richtige.

Ich würde wohl wieder zu Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ greifen müssen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2011)

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