Kriegsspiel im Urlaubsidyll

Anfang der Achtzigerjahre macht Udo Berger, ein junger Stuttgarter, mit seiner Freundin Ingeborg Urlaub an der Costa Brava.

Anfang der Achtzigerjahre macht Udo Berger, ein junger Stuttgarter, mit seiner Freundin Ingeborg Urlaub an der Costa Brava. Während sich seine Freundin ins Strand- und Discogetümmel stürzt, bleibt er auf dem Zimmer, um eine Partie „Drittes Reich“ zu spielen, ein Brettspiel, das es unter dem Namen „Rise and Decline of the Third Reich“ tatsächlich gab und in überarbeiteter Form noch immer gibt: Dabei teilen sich zwei oder mehr Spieler in die Länder der Achsenmächte und der Alliierten und spielen den Zweiten Weltkrieg nach. Das Spannende daran: Das Spiel erlaubt „eine Manipulation der historischen Ereignisse bis hin zu einer Umkehrung des Geschichtsverlaufs“.

Udo ist die aktuelle Nummer eins des „Verbands der Wargames-Spieler“ und gerade dabei, neue strategische Varianten des Spiels auszutüfteln. Unterdessen lernt Ingeborg zwei weitere Deutsche kennen, Charly und Hanna, dazu kommen zwei zwielichtige Typen namens „El Lobo“ und „El Cordero“ („der Wolf“ und „das Lamm“) und ein düsterer Tretbootverleiher, den alle den „Verbrannten“ nennen. Als Charly von einem Schwimmgang im Meer nicht zurückkommt, ist das Urlaubsidyll endgültig vorbei, und der Verfall Udos beginnt: Immer besessener spielt er sein Spiel jetzt mit dem „Verbrannten“, immer offener zeigt er seine ödipale Liebe zur reifen Rezeptionistin „Frau Else“, immer fremder wird ihm Ingeborg. Als Hanna und Ingeborg abreisen, verlängert Udo seinen Urlaub bis in die tote Herbstsaison hinein. Er braucht Zeit, um die Partie gegen den „Verbrannten“ zu beenden, der ihm in seinen immer neuen Wahn- und Fieberfantasien sogar als „Atahualpa“, der letzte Inka-Herrscher, erscheint.

Das Spiel verselbstständigt sich

Schon in diesem bisher unpublizierten Frühwerk von 1989 zeigt sich Roberto Bolaño als Kenner deutscher Literatur: Wie Chamissos Peter Schlemihl verliert Udo seinen Schatten und wird aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Zu Udos geschätzten Lektüren zählen Ernst Jünger und Karl Gutzkow. Als „Faust der Kriegsspiele“ wird er zum ersten Mal eine Partie verlieren. Für deutschsprachige Leser wirken diese Verweise dabei oft recht platt, genauso wie die Deutschheit der Figurennamen.

Der Nationalsozialismus, der anfangs nur im Spiel anwesend ist, dient Bolano auch hier als Paradebeispiel für die Erkundung der Tiefenschichten von Gewalt, Macht und des „Bösen“. Je intensiver Udo seinem Spiel verfällt, desto gewalttätiger werden die Ereignisse ringsum. In nuce kann man den kommenden Meister der „Wilden Detektive“, des „Chilenischen Nachtstücks“ und von „2666“ erahnen. Fremd bleibt dem Bolaño-Leser aber die Tagebuchform, die den Verfall von Udos „Kindskopf“-Charakter nachbilden will.

Die zentrale Bolaño-Figur des Detektivs kommt ebenfalls vor, wenn auch nur in einem Krimi, den Ingeborg und Udo lesen. Doch die Rettungsmächtigkeit der Literatur ist auch im „Dritten Reich“ schon überall präsent: Der „Verbrannte“ etwa las früher nur Dichtung, jetzt Kriegsbücher. Den Krieg auf dem Brett wird er dadurch gewinnen, aber seinen Frieden und seine Seele verlieren. ■




Roberto Bolaño

Das Dritte Reich

Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. 320 S., geb., € 22,60 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2011)

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