Nichts, was einen schützt

Sie war Mitglied der RAF und saß 75 Monate im Gefängnis. Danach wanderte sie aus Deutschland aus und begann „noch einmal ,von vorn‘“. Margrit Schillers uneitler und ungekünstelter Bericht über das Fremdsein in der Fremde.

Ihr Lebensbericht, der vor zwölf Jahren unter dem Titel „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung“ erschienen ist, gehört trotz aller berechtigten Einwände gegen den dürftigen Gestaltungswillen und die fragwürdige politische Positionierung zu den großen Autobiografien des 20. Jahrhunderts. Wie ein Leitmotiv erscheint darin nämlich die Einsamkeit als prägende Erfahrung einer im restaurativen Nachkriegsdeutschland aufgewachsenen Frau.

Geboren ist Margrit Schiller in Bonn, als ältestes Kind eines Majors des Militärischen Abschirmdienstes der Bundeswehr und einer Lehrerin und Lokalpolitikerin der CDU. „Ich fühlte mich sehr einsam. Das war mein grundlegendes Lebensgefühl, seit ich denken konnte. Ich kannte es nur so, dass sich jeder allein durchs Leben kämpfen musste.“ Als Studentin in Heidelberg glaubte sie im bewaffneten Kampf den Ausweg aus der privaten wie kollektiven Misere gefunden zu haben: „Aus dem Leiden die Kraft zum Kampf entwickeln. Darin konnte ich mich erkennen. Den Stein meiner Einsamkeit und Verzweiflung am Leben aufzuheben und ihn gegen seine Ursache zu werfen. Die Ursache war die kapitalistische Gesellschaftsordnung.“ Schillers Bericht endete im Mai 1979. „Ich war 31 Jahre alt und hatte seit 1971 75 Monate wegen Passfälschung, Besitz von nie benutztenWaffen, aber vor allemwegen Unterstützungund Mitgliedschaft in der RAF in verschiedenen Gefängnissen verbracht. Und ich begann noch einmal ,von vorn‘.“

Das Buch der Autorin, das im Untertitel als „autobiografische Erzählung“ ausgewiesen, aber wieder im literarisch anspruchslosen Berichtston gehalten ist, beginnt im Sommer 1985, mit ihrer Flucht ins kubanische Exil. Das Wort Exil ist zutreffend, weil Schiller sich nicht freiwillig zur Ausreise entschieden hatte, sondern aufgrund von glaubhaften Warnungen, dass sie neuerlich festgenommen und eingesperrt werden sollte. In Kuba wurde ihr politisches Asyl gewährt, dort brachte sie zwei Kinder zur Welt, heiratete einen Musiker und brachte sich und ihre Familie in den schlimmsten Jahren der sogenannten Período especial – als das Land nachdem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Einstellung sowjetischer Hilfe am materiellen Abgrund stand – mit viel Mühe und mittels einer Erbschaft durch. 1993 emigrierte die Familie nach Montevideo, zehn Jahre später kehrte Schiller mit ihren Kindern nach Deutschland zurück.

Lesenswert sind auch diese Erinnerungen wegen der ungekünstelten Direktheit, mit der die Autorin ihre Beobachtungen und Empfindungen niederschreibt, und weil sie –was an sich eine Schwäche ausmacht – ihre einmal gewonnenen Einstellungen nicht revidiert: Sie macht zwar Erfahrungen, lässt sich aber durch nichts von ihrem Weg abbringen. Sie ist absolut uneitel und dazu nochunwillens, irgendetwas in ihrem Leben – und in dem, was ihr in Kuba und Uruguay zustößt – zu beschönigen. Naivität könnte man ihr schon eher vorwerfen, auch Anzeichen der klassischen deutschen Besserwisserei, die allerdings dann berechtigt ist, wenn sie Rassismus und Machismo sowie dessen Akzeptanz unter Frauen in linken Organisationen kritisiert. Die elenden Jahre der „Sonderperiode“ auf Kuba mit ihrer extremen Mangelwirtschaft, den politischen Prozessen gegen Fidel Castros langjährige Mitstreiter Arnaldo Ochoa und die Brüder La Guardia, den Traumata ehemaliger Angolakämpfer und dem hanebüchenen Spitzelunwesen in den armen Stadtvierteln und Wohnblocks habe ich nirgendwo derart anschaulich und gleichzeitig zurückhaltend beschrieben gefunden wie hier.

So wie ihre Schilderungen der Isolationshaft in westdeutschen Gefängnissen, im eingangs erwähnten Buch, in jede Anthologie über Alltag und Wirkung des sogenannten Strafvollzugs gehören, ist Schillers neues Werk den eindrucksvollsten Zeugnissen über das Exil, und was es für die Betroffenen bedeutet, zuzurechnen. Sie beobachtet an sich die Folgen der „wahnsinnigen Verletzlichkeit des Exils“: „Nichts, das größer und stärker als ich war, schützte mich. Es gab nichts mehr, wozu ich gehörte. Ich war geflohen, ich konnte nicht mehr zurück. Wie und mit wem ich gelebt hatte, war aus und vorbei. Geschichte. Nicht für einen Tag oder auch nur eine Stunde konnte ich zurück, um die Erinnerung lebendig zu halten und mir zu bestätigen, dass ich mich nicht täuschte in dem, was gewesen war.“ Auch hier wieder: das zerstörerische Element der Einsamkeit, in der Fortsetzung von Kindheit und Jugend.

Einmal erinnert sie sich an ein Gespräch mit einer Uruguayerin, die wegen der Militärdiktatur ebenfalls aus ihrem Land hatte fliehen müssen und dann zurückgekehrt war. Die Frau erzählt ihr von der riesigen Sehnsucht, die in der Verbannung über sie gekommen war – Sehnsucht nach der Stadt Montevideo, dem Río de la Plata, der Uferstraße, dem Matetrinken mit den zurückgelassenen oder über die Welt verstreuten Freunden. Margrit Schiller kann eine solche Sehnsucht nicht abrufen. Sie hat nichts Vergleichbares anzubieten. „Ich bin 1948 geboren, in den 50er-Jahren aufgewachsen“, sagt sie zu ihrer Gesprächspartnerin. „Ich konnte und wollte in Deutschland nichts Schönes sehen.“ Heute lebt Margrit Schiller wieder im ungeliebten Land ihrer Herkunft. Wie wird sie dort wohl zurechtkommen, habe ich mich bei der Lektüre gefragt.

Ich bin der Autorin in Montevideo zweimal begegnet, jeweils im Beisein unserer gemeinsamen Freundin Sara Méndez – eine der wenigen Personen, die sie in ihrem Buch mit warmen Worten erwähnt. „Wie keine andere hat sie mir Fragen gestellt, die mir gehol-
fen haben, voranzukommen.“ Sara habe in den Jahren der Suche nach ihrem von Militärs verschleppten Sohn Simón gelernt, zu beobachten und zuzuhören. Aber das ist auch der Eindruck, den ich von Margrit Schiller gewann: dass sie es verstanden hat, zu schweigen, zu beobachten, zuzuhören. Eine Zuwendung ohne Worte, wie mir schien. Ihr Blick erinnerte mich an eine andere Begegnung in Uruguay, mit Frauen einer kleinen marxistischen Partei, dem Partido por la Victoria del Pueblo, die jahrelang eingesperrt gewesen waren. Die längste Zeit hatten sie sich miteinander nur stumm, mit ihren Augen verständigen können, und das war ihnen auch jetzt noch anzumerken.

In Montevideo gab Margrit Schiller in der linken Casa Bertolt Brecht Deutschstunden. Vielleicht wurde sie deshalb gebeten, im Winter 1996 bei einer Veranstaltung zum Thema Literatur und Erinnerung, an der ich teilnahm, für die eingeladenen Autoren aus Deutschland zu übersetzen. Ich sah sie, die schmale große Frau mit den sprechenden Augen, neben diesen Männern sitzen, den in der DDR verfolgten Schriftstellern Erich Loest und Lutz Rathenow. In der grauen Stadt am Río de la Plata, in einem nach Bert Brecht benannten alten Haus, auf wackligen Stühlen diese drei Menschen, das war für mich das vereinigte Deutschland. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2012)

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