Ein Pfund Brot in der Woche

„Chaim heißt Leben“: der unglaubliche Überlebensbericht eines galizischen Juden aus der Zeit der deutschen Besatzung.

Boryslaw war zur Zeit der Donaumonarchie eine kleine Stadt in Galizien, die nach dem Ersten Weltkrieg zu Polen kam und heute zur Ukraine gehört. Ende des 19. Jahrhunderts gab es dort Erdöl. Es lebten viele Juden dort, die als Arbeiter und Grubenbesitzer in das damals ukrainische Städtchen zogen.

Chaim Segal wurde dort 1929 geboren und ist der letzte Überlebende des Holocaust aus Boryslaw. Seine Erlebnisse schildert er in seinen Erinnerungen „Chaim heißt Leben“. Es war eine wohlbehütete jüdische Kindheit im Stetl, in dem die Häuser, in denen sich winzige Läden oder Werkstätten befanden, dicht nebeneinander standen. Wo jeder über jeden alles wusste und die Kinder in den Schuppen, Kaninchenställen und Latrinenhäuschen spielten. Wo auch Chaims unzählige Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen lebten und wo es das Café Israel gab, in das auch Polen und Ukrainer kamen. Dort spielten polnische, ukrainische, jüdische Kinder und Zigeunerkinder friedlich miteinander. Bis zum Jahr 1941, als die Deutschen die Sowjetunion überfielen. Denn Galizien wurde 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt sowjetisch.

Chaims Vater fuhr unmittelbar nach dem Angriff mit dem letzten Güterzug nach Russland, da er als „Linker“ die Deutschen fürchtete. Chaim und seine Schwester Lusia blieben mit der Mutter in Boryslaw zurück. Die Deutschen kamen, und die Ukrainer begingen (entfachten?) mit Erlaubnis der Deutschen schreckliche Pogrome. Sie drangen mit Knüppeln in die Häuser ein und schlugen tot, wen sie gerade erwischten. Nachdem die Familie den Pogrom überlebt hatte, baute Onkel Israel ein Versteck auf dem Dachboden, in dem 14 Leute eng aneinandergedrängt stehen konnten.

Der von den Deutschen eingesetzte Judenrat bekam Lebensmittel, die an alle Juden verteilt werden sollten. Der Hunger begann. Es gab Läuse, Typhus und Fleckfieber. Alle jüdischen Knaben ab 13 Jahren wurden gezwungen, sich beim Arbeitsamt zu melden. Die erste „Aktion“ begann. Die Deutschen in schwarzen Uniformen, begleitet von ukrainischer Miliz, umstellten die Höfe, zerrten die Juden aus den Häusern, trieben sie in den Wald und erschossen sie. Drei Tage lang. Chaim und seine Familie überlebten in dem Versteck. Nach dieser „Aktion“ mussten auch Mädchen in Lusias Alter Zwangsarbeit verrichten. Täglich zwölf Stunden lang, auch samstags und sonntags. Dafür bekamen sie ein Pfund Brot in der Woche.

Der Winter kam, das Brennholz war aufgebraucht. Die Pelzaktion begann: Alle Pelze mussten abgeliefert werden. Wieder wurde das Versteck der Familie nicht entdeckt. Wer ergriffen wurde, wurde ins KZ Belzec „umgesiedelt“ und kam im Gas um. Alle drängten zum Arbeitsamt und versuchten einen Arbeitsausweis mit dem „A“ zu bekommen, der sie vor der Deportation schützen sollte. Nie wurde das Versteck der Familie entdeckt. Aber Lusia haben sie von der Arbeit mitgenommen und nach Belzec deportiert. Ein Mann vom jüdischen Ordnungsdienst wollte sie retten, unter der Bedingung, dass sie mit ihm schläft. Sie wollte nicht. Als er versuchte, sie zu vergewaltigen, schrie sie und zerkratzte ihm das Gesicht.

Inzwischen war Chaims Onkel Aaron im Zwangsarbeitslager in Boryslaw und arbeitete tagsüber in einer Tischlerei in der Stadt. Er ließ Chaim die Nachricht zukommen, dasser ins Lager kommen solle, wo er ihn als seinen Sohn ausgeben wolle. Direktor Berthold Beitz, der 1973 in Yad Vashem in die Liste der Gerechten aufgenommen wurde, hatte durchgesetzt, dass auch die Familien im Lager leben durften. Chaims Mutter und Tante sollten in ein Kellerversteck. Das Lager rettete Chaim das Leben, das Versteck der Mutter wurde kurz vor der Befreiung entdeckt, Mutter und Tante wurden erschossen.

Chaim überlebte durch Mut, Schläue, vor allem aber durch Glück. Es gelang ihm sogar, aus dem gefürchteten Janowska-Lager in Lemberg zu fliehen und ins Lager in Boryslaw zurückzukehren, wo er dessen Liquidierung vor dem Näherrücken der Roten Armeeim Latrinenhäuschen überlebte, in dem er bis zum Hals in der Brühe hing.

Julia Drinnenberg hat diese Geschichte in eindringlicher Weise und sprachlich brillant aufgezeichnet. Über zwei Jahre hinweg hat sie zwischen Toronto und Hofgeismar mit Chaim Segal telefoniert. Auch wenn das Buch nur an unbedeutender Stelle erschienen ist, verdient es doch größere Aufmerksamkeit. Als ein scheinbar kleiner Mosaikstein sollte es in der Reihe bereits bekannter Berichte über den Holocaust einen hervorragenden Platz einnehmen. Es ist ein Beitrag, das Unglaubliche niemals zu vergessen, zumal der Holocaust in Galizien bei Weitem noch nicht erschöpfend erforscht ist. ■


Chaim/Imek Segal
Chaim heißt Leben

Ein jüdisches Schicksal in Boryslaw und ein Neuanfang in Hofgeismar. 136 S., brosch., €12 (Verlag des Stadtmuseums Hofgeismar)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2012)

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