An der schönen roten Donau

Als Reiseleiter auf einem Donau-Kreuzfahrtschiff: Da hat man es mit adipösen US-Touristen, versklavten Crewmitgliedern, blinden Passagieren und zwei Toten zu tun. Michal Hvoreckys treffliche und mitunter groteske Satire „Mord auf der Donau“.

Vor einigen Wochen sank bei
Wildungsmauer ein Frachtschiff. Der Havarist ruht seither auf dem Boden des Stroms und gefährdet die Fahrrinne. Versuche, das Schiff zu bergen, schlugen fehl, Schiffskapitäne sehen sich zu gewagten Ausweichmanövern gezwungen. Zum Entsetzen der Naturschützer wird eine Sprengung nicht mehr ausgeschlossen. Dass die Donau kein harmloser Fluss ist, weiß man nicht erst seit diesem Vorfall. Donaukenner verbinden nahezu jeden Stromkilometer mit einem Unglück.

Auch der Held von Michal Hvoreckys kriminalistischer Donausatire wird als Reiseleiter auf einem amerikanischen Flusskreuzfahrtschiff mit der Geschichte der Donauhavarien bekannt gemacht. Martin Roy, so der Name des Helden, studierte Italienisch sowie englische und amerikanische Zeitgeschichte und ist leidenschaftlicher Übersetzer. Er hat Werke von Italo Calvino, Curzio Malaparte und den großen Donau-Essay von Claudio Magris übertragen.

Letzteres ist kein Zufall, denn neben der Übersetzungsarbeit schlägt Martins Herz von Kindheit an für den großen Strom, an dessen Ufern er in den Siebziger- und Achtzigerjahren aufgewachsen ist. Der Vater arbeitete im Pressburger Hafen, barg Flussminen aus dem Zweiten Weltkrieg und fing in den Auen von Petržalka, dem Plattenbautenstadtteil am südlichen Flussufer, einen der letzten Störe. Der riesige Fisch wurde vonmehreren Männern mit Knüppeln erschlagen, schließlich schoss ein Polizist dem Stör eine Kugel in den Kopf. Diese Passage des Buches zählt zu den eindringlichsten eines Textes, der bis zum jähen Ende eine gelungene Balance zwischen realistischer Erzählung und satirischer Zuspitzung hält.

Die politische Wende nach dem Fall des Eisernen Vorhangs brachte ein weitgehendes Verlagssterben mit sich, Übersetzungsmöglichkeiten reduzierten sich auf ein Minimum, der Romanheld muss sogar amerikanische TV-Serien ins Slowakische übertragen. Dennoch reicht das Geld für das teuer gewordene Leben nicht aus. Dass der weltgrößte Kreuzfahrtkonzern – im Roman ist er in Chicago angesiedelt, tatsächlich hat Carnival Cruises sein Headquarter in Panama, denn das dort geltende Rechtssystem sieht für im Ausland verdientes Geld einen Steuersatz von null Prozent vor – sich anschickt, mit neun Schiffen die Donau von Regensburg bis zur Mündung zu befahren, stellt für die sprachkundigen Geistes- und Literaturwissenschaftler des Ostens eine letzte Chance dar. Sie heuern als unterbezahlte Reiseleiter auf den schwimmenden Schuhschachteln an. Denn nicht nur auf hoher See, auch auf den Flüssen Europas tummeln sich mittlerweile Kohorten von betagten Gästen, die in ihren Luxuskabinen die gemächlich vorüberziehende Welt des Ostens in sicherer Entfernung bestaunen.

In scharfem Kontrast zum stagnierendenFrachtaufkommen boomt die grenzüberschreitende Personenschiffahrt. Wurde der Strom Jahrzehnte hindurch von nicht mehr als 20 Kabinenkreuzern befahren, sind es mittlerweile achtmal so viele, dementsprechend groß ist der Bedarf an billigen Arbeitskräften.

Die dreckige Koje im Unterdeck

Für den Übersetzer Martin wird ein Bubentraum wahr, er darf den Strom bis zur Mündung bereisen, zwar nicht als betuchter Pensionär in einer Suite mit Flachbildschirm und 99 TV-Programmen, aber doch als Reiseleiter von 120 US-Bürgern. Seine Koje im Unterdeck ist ein dreckiges, lautes Loch, doch Martin ist jung und tatendurstig, immerhin segelt der Kreuzfahrtkonzern unter dem Slogan „Das Leben ist ein Schiff, und eine Karriere das Ziel“.

Das Durchschnittsalter der Gäste liegt über 70Jahre, das Durchschnittsgewicht beträgt über 100 Kilo, auch der Bildungsstand entspricht dem Durchschnitt des amerikanischen Mittelwestens. „Martin, bitte, was ist Barock?“, wird er von einem Gast gefragt. „Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Das habt ihr in Amerika nicht“, lautet die erste, ausweichende Antwort, eine Nachfrage lässt ihn aber dann doch ins Detail gehen: „Barock war eine italienische politische Diktatur, die noch vor der Gotik in Europa herrschte. Sehr böse, obskur und gefährlich!“ – „Gut, dass wir das in Amerika nicht haben“, zeigt sich der Gast befriedigt. „So was brauchen wir nicht. Was wir brauchen, ist eine gute Wirtschaftslage und Ordnung.“

Ein älterer Herr erkundigt sich: „Was kann man in Mauthausen besichtigen – ist es dort schön?“ – „Das ist ein ehemaliges Konzentrationslager“, antwortet Martin. „Mehr als 100.000 Menschen sind dort umgekommen.“ – „Tatsächlich? Unter den Kommunisten?“ –„Nein, unter den Nationalsozialisten.“ – „Stalin war ein Schweinehund, das habe ich immer schon gesagt“, erwidert der Mann.

Die Reise startet in Regensburg, und schon in Passau bekommt die MS America einen blinden Passagier. Mona Mannová, Martins Jugendliebe, die einst ihrem Vater, der als Kulturattaché nach London berufen wurde, gefolgt ist, ein Studium abgebrochen und sich in biografische Turbulenzen verstrickt hat, stiehlt sich nächtens auf das Schiff. Martin nimmt den Flüchtling in seiner Koje auf, durch ein Versehen landet aber ihr halb geöffneter Koffer im Fluss, hunderte Banknoten treiben auf dem Wasser, Monas Fluchtgeld, mit dessen Hilfe sie ein neues Leben beginnen wollte. Sie gibt sich am Boden zerstört, bald stellt sich aber heraus, dass der Verlust so groß auch wieder nicht ist. Es war Falschgeld, das die Donau hinuntertrieb, dilettantisch gefertigte Blüten.

Für die Crew wird der touristischeTrott– jeden Tag in einer anderen Stadt mit Rundfahrt und abendlichem Besäufnis – jäh durchbrochen: Eine Wäscherin ist tot, durch Dutzende Messerstiche übel zugerichtet. Kapitän Atanasiu Prunea reagiert pragmatisch: Die Suche nach dem Mörder unterbleibt, die Polizei wird nicht verständigt. Da die Tote keinen Vertrag hatte, bekommt ihre Familie auch keine Entschädigung. Die Leiche muss verschwinden, nichts darf an die rumänische Wäscherin, deren Platz flugs von Martins Jugendliebe Mona eingenommen wird, erinnern. Strengstes Stillschweigen der Crew heißt das oberste Gebot, schließlich hat Chicago schon genug Sorgen, so das geflügelte Wort auf dem Schiff. Das Trugbild einer perfekten Kreuzfahrt darf nicht erschüttert werden. Dass die Crew damit auch ihren Arbeitsplätze sichert, dient als zusätzliche Rechtfertigung. Schließlich wird dem schöngeistigen Literaturwissenschaftler die Beseitigung der Leiche übertragen.

Die amerikanische Gästeschar findet Linz „awesome“, fast so großartig wie Frankfort, Kentucky. Martins Aufgabe besteht nun darin, diese Bekundung in den verbleibenden Reisetagen von „großartig“ in „exzellent“ zu verwandeln, denn der Veranstalter betreibt ein ausgeklügeltes Bewertungs- und Spitzelsystem. Unablässig bewerten die Gäste die Mitglieder der Crew: vom alkoholkranken rumänischen Kapitän über die Matrosen („chief nautical officers“), die thailändischen Köche, die Putzfrauen („chairwomen of housekeeping“) bis zum letzten serbischen Maschinisten („general engineer commander“) und den Reiseführer („cruise director“). Alle werden sie benotet, und jede Bewertung außer „exzellent“ gilt als negativ und kann dazu führen, für die nächste Fahrt keinen Kontrakt mehr zu bekommen. Zwar führen die Mitglieder der Crew hochtrabende Diensttitel, das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf dem Schiff sklavenartige Arbeitsbedingungen ohne jegliche Arbeitnehmerrechte herrschen. Auch die Mitglieder der Besatzung sind angehalten, einander zu bewerten und zu vernadern, dementsprechend kollegial ist auch das Arbeitsklima auf der „MS America“. Es gibt zwar einen Schiffsarzt, doch dieser ist angehalten, keinerlei Aufenthalte zu veranlassen.

Auf der Höhe von Hainburg erinnert sich Erwin Goldstucker, ein alter Mann aus Brooklyn, an die Vertreibung der jüdischen Stadtbevölkerung in der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag 1938. In ihren Nachtgewändern wurden die Menschen auf einer Insel vor Theben/Devin ausgesetzt, am Zusammenfluss von March und Donau standen 70 Leute bis zur Hüfte im Eiswasser. Zwar gelang es der jüdischen Gemeinde von Bratislava, viele Leben zu retten, aber die Hainburger Juden wurden wieder nach Österreich zurückgebracht, drei Wochen lang wurden sie an der Grenze hin- und hergeschoben. Einige ertranken beim Versuch, die eiskalte Donau zu durchschwimmen, andere wurden erschossen. Goldstucker entkam, eine ungarische Familie in Budapest gewährte ihm ein Versteck, seine Mutter aber wurde nach Auschwitz verschleppt und ermordet. In jener Nacht von Hainburg sah er sie zum letzten Mal.

In diesen historischen Passagen nimmt der Autor den satirischen Ton zurück, er bleibt klar und sachlich und schafft damit einen notwendigen Ausgleich zu den manchmal überbordend-grotesken Teilen der Story. Gelegentlich streut er auch allgemeine Ausführungen zum Leben am Strom ein und erzählt davon, dass Fische aus Bratislava zur Zeit der Monarchie in Bottichen auf Pferdefuhrwerken bis Frankfurt und Paris geliefert wurden, und dass die ersten westlichen Personenschiffe ihrer kantigen Formen wegen auf die slowakischen Anrainer wirkten, als seien die Außerirdischen aus dem Westen im Osten gelandet.

Grillparzers Donaureise von 1843

Diese Nebenstränge erweitern das Bezugssystem des kriminalistischen Plots und verleihen dem Text Welthaltigkeit. Die eine oder andere flapsige Sprachwendung oder kleine nautische Ungenauigkeiten können das Lesevergnügen nicht ernsthaft schmälern. Es stimmt etwa nicht, dass sich auf der Donau im frühen 19.Jahrhundert ein reger Verkehr von Ausflugsschiffen nach Sulina und Konstantinopel entwickelt hat. Zum einen waren es keine Ausflugs-, sondern Kabinen- und Postschiffe, die vom „Österreichischen Lloyd“ bereedert wurden und durch Grillparzers Donaureise 1843 Bekanntheit erlangten. Im Übrigen kann man mit den üblichen flussgängigen Schiffen das Schwarze Meer nicht befahren. Auch die Umkehrung erwies sich als nicht praktikabel. Um 1980 steuerten seegängige Frachtschiffe den Wiener Hafen an. Ein regelmäßiger Liniendienst konnte aber nicht etabliert werden, die Eintauchtiefe der Küstenmotorschiffe war zu groß.

Als auch ein schwer adipöser Amerikaner, der die Kreuzfahrt ausschließlich in seiner Kabine verbringen wollte, ermordet aufgefunden wird, greift das erprobte Prozedere. Wieder nimmt der Strom eine Leiche auf, wieder tut der Kapitän so, als wäre nichts geschehen. Die Reise geht weiter – bis zum dramatischen Finale im Donaudelta, das hier nicht verraten werden darf.

Mit „Mord auf der Donau“ ist Michal Hvorecky eine treffliche Satire über einen wenig beachteten Zweig der Tourismusindustrie gelungen. ■



Michal Hvorecky
Tod auf der Donau

Roman. Aus dem Slowakischen von Michael Stavarič. 272 S., geb., €20,50 (Tropen Verlag, Stuttgart)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2012)

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