In der Pause zu den Mangas

Was in Europa oft den Ruf des Trash hat, steht in Japan in der Mitte der Gesellschaft. Animes und Mangas behandeln alle Facetten des Lebens. Über die verspielte Zeichenkultur Japans. Dritter und letzter Teil.

Um die Mittagszeit tummelt es sich an der Fensterwand. In einem Supermarkt an der U-Bahn-Station Shin-Nakano, westlich des Stadtzentrums von Tokio, werden Getränke verkauft, Nudeln, Süßspeisen, Reisgerichte und leichtes Gebäck. Viele Kunden wollen sich in der Mittagspause eine schnelle Mahlzeit mitnehmen, um nicht zu spät zurück am Arbeitsplatz zu sein. Aber statt hungriger Hektik herrscht hier konzentrierte Ruhe. Die Leute bleiben vor dem Regal stehen, in dem Magazine, Zeitungen und Comicbände ausgestellt sind. Es wird geblättert, gestaunt und in der Handlung versunken.

Mehr als die Sport-, Frauen- oder Männermagazine ziehen die verschiedenen Mangabände das Interesse an. Mangas, die japanische Version von Comics, gibt es hier in allen Variationen. Ganz rechts neben der Tür steht ein 30-jähriger Mann im Anzug, daneben eine junge Frau, links zwei jüngere Männer. Minutenlang bleiben sie stehen, ohne die Blicke zu heben. Es scheinen die Illustrierten zu sein und nicht der Mittagssnack, weshalb die Menschen sich hier herumtreiben. In Japan, dem Land der Animes und Mangas, werden die Comics weder nur Freakszugeschrieben, noch legt man sie als Hobby ab. Die bewegten und gedruckten Bilder bedeuten hier mehr als nur Unterhaltung.

Einer der Leser ist der 24-jährige Daichi Suzuki. „Ich blättere oft nur durch“, sagt er unschuldig. Ein bestimmtes Manga hat er sich nicht angeschaut. Das bloße Herumstöbern sei üblich, auch wenn man nichts kaufen will. Suzuki kommt gelegentlich in Läden wie diesem vorbei, zur Mittagspause oder nach Feierabend, und wirft einen Blick in die Regale. „Manchmal kaufe ich auch etwas“, sagt er apologetisch. Gerade vor Kurzem habe er ein Manga durchgelesen, in dem er sich als Politikstudent auch weiterbilden konnte. Hin und wieder finde man so Geschichten, in denen etwa Interessenkonflikte erklärt würden, die in der Uni nur am Rande Thema seien.

„Du bildest dich ja weiter beim Lesen. Das gilt auch für Mangas“, sagt Suzuki wie selbstverständlich. Ein Beispiel ist die Geschichte „Spice and Wolf“, bei der ein Händler, der durch die Welt reisend Produkte anbietet, plötzlich in eine Wirtschaftskrise gerät. Schnell geht es nicht nur um Fragen der Geldmenge und Konsum, sondern auch persönliche Konflikte. Da sich die Handlung, samt der Entwicklung der Charaktere, auf Ökonomie konzentriert, wurde „Spice and Wolf“ auch von Kritikern gelobt. „Die Geschichte ist schon recht anspruchsvoll“, gesteht Suzuki.

Damit verteidigt er einen ganzen Stand, der in Europa mit Trash assoziiert wird. Mangas und Animes, das sieht man auf dem Alten Kontinent meist als etwas an, das nur Freaks und Kinder begeistern kann, nicht intellektuell stimuliert. Ein Blick nach Japan offenbart das Gegenteil. „Bei uns gibt es keine Debatte darüber, wofür Mangas und Animes stehen, oder ob damit ein Stigma verbunden ist. Sie sind da, und es ist selbstverständlich, sie zu lesen.“ Dazu müsse man noch nicht einmal in Bilder verarbeitete Ökonomieliteratur kaufen. Denn auch die typischen Fantasymangas und -animes, in denen die Protagonisten häufig übernatürliche Kräfte besitzen, sind keineswegs immer stupide.

Der bisherige Lieblingsanime von Suzuki etwa, „Higurashi no Naku Koro ni“, auf Deutsch: „Zur Zeit der zirpenden Zikaden“, sei so ein Beispiel. In der Story bricht in einem japanischen Bergdorf ein Virus aus, und der Hauptcharakter Keiichi, der aus der Stadt stammt, will die Siedlung retten. In acht verschiedenen Episoden steht er immer vor demselben Problem, reagiert aber auf unterschiedliche Weisen. In sieben Fällen scheitert er, meistens, weil er nicht mit den Dorfbewohnern zusammenarbeitet. Endlich gelingt die Rettung. „Wenn es eine Botschaft der Geschichte gibt, ist es, dass Kooperation besser als Einzelkämpfertum ist. Man muss sich zusammentun“, interpretiert Suzuki. Die Serie habe er gerade durchgeschaut und intensiv mit seinen Freunden diskutiert.

Ganz ohne Comic oder Zeichentrick könnte er sich weder sein Leben noch Japan vorstellen. „Wir Japaner arbeiten lang und hart. Da brauchen wir etwas Abwechslung. Mit Anime ist die manchmal schrill, aber das ist der richtige Kontrast zum straffen Alltag“, sagt er. So lesen auch Suzukis Eltern Mangas, wie in vielen japanischen Familien. Die Mutter erfreut sich an folkloristischen Themen, die sie an ihre Kindheit erinnern, als in Japan Fernseher eine Innovation waren und noch nicht ganz Tokio voller Wolkenkratzer war. Der Vater hingegen liest gern historische Mangas, die sich entweder mit dem Zweiten Weltkrieg oder den Epochen Japans vor dieser Zeit beschäftigen. „So war für mich als Kind auch immer etwas Lehrreiches im Regal zu finden“, sagt Daichi Suzuki.

Folklore, Selbstfindung, Erotik

Einen Ausweg bieten Mangas und Animes auch in anderer Hinsicht. Ein nicht unbedeutender Anteil der Formate hat erotische oder pornografische Inhalte. Auch diese Mangas liegen im Supermarkt in Nakano auf und werden von Kunden durchgeblättert. Dabei haben diese sogenannten Hentai-Mangas ebenso oftmals nur bedingt realistische Züge, die in der Realität ungewöhnlich oder gar verboten wären. Teilweise fantastische Variationen von Hermaphroditen verkehren miteinander genauso wie Kinder.

Dass dieses Angebot daher rührt, dass bei lebensechten Pornos in Japan Geschlechtsteile zensiert werden müssen und die animierte Version daher einen Ersatz darstellt, glaubt Daichi Suzuki aber nicht. „Wer heutzutage unzensierte Pornografie sucht, bekommt diese ohnehin im Internet.“ Hingegen sei auch bei Hentai keineswegs ausgeschlossen, dass es nicht komplexe Handlungsstränge geben könne. So gehe es den Lesern nicht notgedrungen um sexuelle Inhalte, sondern manchmal etwa um Prozesse der persönlichen Selbstfindung oder Erforschung. Und auch hier steht am Ende der Geschichte oft eine Moral, der es zu folgen gilt.

So zieht es sich durch alle Konsumentengruppen. Für Kinder gibt es auch in Europa bekannte Geschichten wie Pokémon oder – in den Neunzigerjahren – Mila Superstar. Für Teenager und junge Erwachsene geht es um Fußball, den Kampf gegen das Böse oder Selbstfindung. Für Hausfrauen gibt es Folklore und für ältere Generationen historische Geschichten – die Aura des Trashigen haben in Japan hingegen andere Formate. „Ich schaue schon ganz gern ,Spiderman‘“, gesteht Daichi Suzuki. „Es ist ganz unterhaltsam. Aber anstrengen, damit ich die Handlung verstehe, musste ich mich da noch nie.“ Im Supermarkt wäre „Spiderman“ das Letzte, was er sich ansehen würde. Womöglich auch deswegen, weil andere Leute zusehen könnten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2013)

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