Zug zum Wahnsinn

In London ist der älteste Modelleisenbahnklub der Welt zu Hause. Ein Paradies für die vielen Fans britischer Züge, bisweilen auch eine Reise in die Vergangenheit. Ein Besuch.

Das ist der Silver Jubilee“, sagt Mike Randall stolz und öffnet eine kleine, schmale Truhe. Nur wenige Zentimeter breit, alles per Hand gefertigt. „In den 1930er-Jahren war das der schnellste Zug im Land. Zur 25-jährigen Regentschaft König George V. kam er, fuhr regelmäßig von King's Cross nach Newcastle.“ In einer anderen Schachtel bewahrt er sogenannte LNER-Modelle auf, von der London & North Eastern Railway, einer der größten Eisenbahngesellschaften ab den 1920er-Jahren bis zum Krieg. Über die Jahre hat Randall 20 Lokomotiven und 300 Gebäude gebaut. In Miniatur.
Von oben kommt Lärm aus dem Aufenthaltsraum. Im Stockwerk über der Werkstatt, wo Randall an einem neuen Modell arbeitet, schauen sich Kollegen einen Film über walisische Eisenbahnen ab 1961 an. In der Ecke ist eine Testbahn aufgebaut, wo Mitglieder ihre neuen Modelle auf verschiedenen Gleisbreiten testen können. In der Bar daneben ist von Tee über Bier bis Scotch alles zu haben. Was man hier treibe? „Wir lieben Eisenbahnen“, antwortet Antony Cox. Er trägt einen Anzug und ist zweiter Vorsitzender des Model Railway Club. „Wir beschäftigen uns mit allen Facetten der Züge. Wir bauen, fahren und lesen.“ Gerade für ältere Menschen sind Eisenbahnen noch immer faszinierend.
Nur einen Steinwurf von King's Cross entfernt, hat dieser älteste Modelleisenbahnverein der Welt sein Zuhause. Seit das Gebäude in der Calshot Street in den Fünfzigerjahren errichtet wurde, rund 40 Jahre nach Gründung des Vereins, scheint hier die Zeit angehalten. Ein grauer, durchgetretener Teppich, rot-grün karierte Gardinen, Bilder aus vergangenen Jahrzehnten an der Wand. Sie zeigen Bahnhöfe in ganz Großbritannien, abmontierte Schilder von Bahnsteigen. Der Film auf dem großen, klobigen Fernseher, neben einer Vitrine mit Zugmodellen und Bauanleitungen, läuft auf einer Videokassette. „Wir sind ganz froh“, sagt Cox schüchtern lächelnd, „dass wir Unterstützung für den Unterhalt der Räumlichkeiten bekommen. Einige Bahngesellschaften helfen uns da.“ Jeden Donnerstag treffen sich hier bis zu 200 Mitglieder. In Großbritannien soll es rund 100.000 Modelleisenbahnfanatiker geben, der größte Klub ist dieser aus der Hauptstadt. Es wird gefeilt, gefahren und getrunken. Regelmäßig kommen Gastredner und halten Vorträge zu Bahnthemen. An anderen Tagen helfen Workshops den Mitgliedern, noch detaillierter an ihren Modellen zu feilen. Daneben gibt es eine klubeigene Bibliothek. Das Publikum variiert stark. Die meisten Mitglieder sind über 50, viele davon haben Jobs in der Eisenbahnbranche. „Aber das ist überhaupt nicht bei allen so“, meint Cox. „Eine junge Frau aus unserem Verein arbeitet als Ingenieurin bei der Zuglinie Eurostar. Ich selbst bin Buchhalter.“ Andere sind Zahnärzte und Lehrer, und das jüngste Mitglied ist erst 16 und kommt jede Woche mit seiner Mutter.
Die besten Modellbauer sind meist die älteren Jahrgänge. „Das kommt durch die Erfahrung“, sagt Mike Randall und schaut auf eine Platte Holz, auf der verschiedene Gleise aufgereiht sind. Seit Jahrzehnten kommt der Zimmermann und Lehrer Woche für Woche in den Verein. Vor Kurzem hat er eine Reihe Güterwaggons aus den Siebzigern gebaut. Daran musste er mit Zahnbürsten und verschiedenen Stoffen schrubben, bis sie so verbraucht wie das Original aussahen. „Wie käme das rüber, wenn Kohle transportiert wird, aber die Waggons blitzsauber sind?“ Andere wie den „Silver Jubilee“ lackierte Randall, damit er glänzt wie das Original.
Mit einem Glas Lagerbier in der Hand bastelt Randall heute an einem Modell, das eine Parklandschaft nördlich von King's Cross in der Zwischenkriegszeit zeigt. Seit 1983 arbeitet er mit neun Kollegen daran. Das Stück wandert von einem Festival zum nächsten. Letzten Monat war es in Holland, in Kürze geht es nach York. „Das war ganz angenehm“, sagt Randall und stemmt die Fäuste in die Hüfte. „Wir hatten ein gutes Startkapital. Für ein paar Tausend hatte ein Museum damals ein altes Modell von mir gekauft. Mit der Kohle konnten wir gleich loslegen.“
Die Einzelteile sind zwar nicht teuer, summieren sich aber. Ein Paar Stahlräder kostet sechs Pfund, ein Motor zwischen zehn und 30. Bei nachzukonstruierenden Landschaften kommen Holz, Gleise und Elektrokabel dazu sowie weitere „atmosphärische Einzelheiten“ wie Bäume, Menschenfiguren und zeitgetreue Plakate. „Den Rest machst du dann eigentlich selbst. Die Materialien für die Karosserie suche ich mir zusammen, und dann schaue ich mir die Vorlage genau an.“ Die Werkzeuge dafür stehen im Vereinshaus.
Wenn ein Modell fertig ist, zumindest in erkennbarem Zustand, wird es sicher weggeschlossen. Rausgeholt wird es dann nur für spezielle Anlässe. Ohnehin sind alle Modelle, in die viel Arbeit geflossen ist, versichert. „Wenn auf einer Messe oder sonst wo etwas kaputtgeht, werden wir dafür entschädigt“, grinst Randall. „Letztens ist das passiert. Da wurde mir der Schaden an ein paar Figuren und einer Seitenstraße ersetzt, der beim Transport entstanden war. Die Versicherung konnte das natürlich nicht selbst reparieren, also hat sie mich dafür bezahlt, alles noch einmal zu bauen. Das war ein Spaß.“

00, H0 und so weiter

Enthusiasten wie Mike Randall sind in der Szene hoch angesehen, aber auch ein Extrem. Viele Eisenbahnfans bauen sich die Züge im Baukastensystem zusammen, andere kaufen sie gleich fertig produziert. Auf einer Messe in London waren etwa neben Spezialhändlern und -herstellern auch Modelle der großen Fabrikanten Hornby und Märklin vertreten, die den Markt für Modelleisenbahnen dominieren. Zwar ist die jüngere Kundschaft geschrumpft, Märklin schlitterte in die Insolvenz. „Aber ein Vorteil“, lächelt Antony Cox, „ist unsere Tendenz zum Wahnsinn. Wenn du erst einmal angefangen hast, willst du immer mehr Modelle. Du tauchst einfach immer tiefer.“
Oben im Aufenthaltsraum vergleichen zwei Mitglieder das 00-Maß mit dem H0, verschiedene Gleisbreiten bei Modelleisenbahnen, die sich historisch aus den echten Bahnen herleiten. In der Mitte der Teststrecke kontrolliert ein anderer die Hebel. „Das ist ein besonderes Pult“, erklärt Antony Cox: Sowohl analoge als auch digitale Steuerung seien möglich. Durch digitale Technik können Modelleisenbahnen etwa durch implantierte Chips auch Töne des Originalzugs ausstoßen. Das bietet ganz neue Möglichkeiten beim Basteln. „Der Sound des Silver Jubilee wäre mal interessant“, murmelt einer in der Mitte der Testbahn. „Heute Abend ist ja noch etwas Zeit.“ Und vergisst ganz, dass die Uhr im Vereinslokal noch auf Winterzeit gestellt ist. ■



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