„See us in heaven!“

Abschiedlich leben. Cortisongetrieben schreibe ich nächtelang E-Mails. Jedenfalls ist das besser als dauernde Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Erfahrungen mit der Chemotherapie.

Da ist es wieder, das Gefühl des Abschieds. Wenn ProfessorGisslinger sagt: „Wir werden Sie wieder aufnehmen, diese Woche noch.“ Und so findest du dich plötzlich, der du am Vortag in der Schule noch sechs Stunden unterrichtet hast, wieder einmal in deinem Zweitwohnsitz AKH, dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien, zur Chemotherapie.

„Ebene 13. Intensivpflege. Besucher bitte bei der Leitstelle melden“, sagt die Aufzugstimme den ganzen Tag, wenn der Lift hier hält, diesmal gilt sie dir. Du liegst im Bett und wartest aufs „Carver-Stechen“, das Setzen eines Zentralvenenkatheters, der dir die Infusionsschläuche mit den bunten Verschlüssen so lustig aus dem Hals sprießen lässt. Er ist die Voraussetzung, dass die Mischung der verschiedenen Chemotherapeutika zielsicher in die Venen tropft und nicht anderswo Schaden anrichtet, üble Nekrosen verursacht. Diesmal sticht es ganz böse im Unterarm, als Nerven getroffen werden, dann wirkt die lokale Vereisung, und das Setzen geht ganz gut und professionell. Nur das Vernähen mit der Haut tut etwas weh. Dann liegstdu wieder und wartest – während über dir Monitore blinken und piepsen: EKG, Sauerstoffsättigung. Nur das Muster der Atemfrequenz kann ich verändern, spiele damit, indem ich die Luftanhalte, dann wiederdurch ganz schnelles Atmen eigenwillige Muster auf den Bildschirm zeichne. Dann folgt das Kontrolllungenröntgen. Nicht nur Kinder freuen sich, wenn das mobile Röntgengerät seinen lustig bemalten Giraffenhals ausfährt. Du denkst: Sehr gut, ihr Ingenieure, seid verspielter! Bitte mehr Kunst in die Kliniken!

In den nächsten Tagen kann die eigentliche Therapie auf der Abteilung für Innere Medizin beginnen. Ein schärferer Chemotherapiezyklus wartet diesmal auf mich zur Bekämpfung meines Multiplen Myeloms, einer bösartigen Blutkrankheit, bei der sich eine bestimmte Art von weißen Blutkörperchen, die Lymphozyten, unkontrolliert im Knochenmark vermehrt und in den Knochen wie auch in der Immunabwehr Schaden anrichtet. „Jetzt ist es gut, dass wir einen Punkt gemacht haben, weil wir gesehen haben, dass wir mit der Erhaltungstherapie nicht alles niederhalten konnten“, sagt Professor Gisslinger und hat sich diesmal zwei schärfere Chemotherapiezyklen ausgedacht,bevor es zu einer weiteren autologen Blutstammzelltransplantation auf der Abteilung für Knochenmarktransplantation kommen wird. Und so heißen die feinen Substanzen, die innerhalb von vier Tagen über den Zentralvenenkatheter in meinen Körper träufeln: Velcade, Etoposid, Endoxan, Cisplatin und Doxorubicin – die Letzteren beiden werden über 20 Stunden fein dosiert, weshalb der Infusionsständer überallhin mitmuss – auch auf die Toilette. Das Wechseln der Infusionsbeutel und -spritzen nutze ich blitzschnell zum Duschen.

Die Chemotherapien sind viel verträglicher geworden. Dies ist eine Folge der Begleitmedikamentation. Allerdings, das Cortison lässt mich nicht schlafen. Cortisongetrieben schreibe ich nächtelang E-Mails. Jedenfalls ist das besser als dauernde Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Aber am Tag bist du doch deutlich reduziert. Alles kann man nicht haben. Nächte lesen, schreiben, nachdenken ist doch die bessere Wahl.

Eine der sichtbarsten Nebenwirkungen der Chemotherapien bleibt der Haarausfall. Nicht schon wieder! Neun Monate hat es nach meiner Stammzelltransplantation gedauert, bis mir die Haare nachgewachsen sind. Eine ganze Schwangerschaft lang, ein offensichtlich menschliches Maß! Es ist doch wurscht, sagt mein Schwager Karl. Mir nicht! Er trägt einen würdevollen Bart und Haarkranz, ich ziehe mir die Barthaare beim Rasieren ganz heraus. Mit den Haaren auf dem Boden geht ein Stück von dir. Wieder so ein Abschied.

Die Freundin meines Sohnes Lukas veranstaltet manchmal Schminkseminare für Krebskranke. Berührt erzählt sie davon, wie wichtig der gute Umgang mit dem Körper gerade auch in dieser Phase sei. Manche der Teilnehmer – überwiegend Frauen – sind von Schmerzpflastern übersät, aber das Bemühen um würdevolles Gestalten unseres zunehmend verfallenden Körpers ist wichtig. Tolle Kopftücher habe ich schon gesehen, farblich perfekt auf die Kleidung abgestimmt. Was mache ich? Kappen mag ich nicht, vielleicht eine Mütze wie Georg Danzer? Ich weiß: Ich werde einen Hut nehmen, einen Stetson oder einen Cowboyhut.

Bevor ich nach den Tagen der Chemotherapie in die Phase der Aplasie komme, in der die Blutzellen sinken, darf ich einige Tagenach Hause. Dann muss ich wieder eine Woche ins Spital. Zu diesem Zeitpunkt istdas Immunsystem nicht voll funktionstüchtig, sodass es häufig zu Infektionen kommt. Krebspatienten sind vermehrt ansteckungsgefährdet, „immunsupprimiert“, wie es so schön heißt. Das bedeutet wieder für gewisse Zeit Abschied von geliebter Gartenarbeit und nach Möglichkeit von der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel, was mir besonders schwerfällt.

Meine Kinder sind wie in der Vergangenheit eine große Hilfe. Am Abend massiert mich mein Sohn Jakob in den Schlaf. Wie gut, dass man einen Masseur in der Familie hat. Welch Wunder aber auch, dass er das wieder kann, war er doch selbst vor einem Jahr Gast auf der Intensivstation mit einem offenen Schädelbasisbruch, weil er die Villacher Hochalpenstraße mit einem Kickboard hinunterzufahren versuchte. Daswar der Muttertagsanrufaller Muttertagsanrufe:„Ja, Jakob, schön, dassdu anrufst“, sagt meine Frau und freut sich auf die zu erwartenden Glückwünsche. „Nein,hier PolizeiinspektionVillach, wir haben dasHandy Ihres Sohnes, er liegt bereits im Rettungsauto, ist aber ansprechbar.“ Welche Schäden werden bleiben? Was kommt auf uns zu? Aber Jakob erfängt sich, wird wieder voll arbeitsfähig. Ein „Wunder“.

Hilft da beten? In den Gebetsräumen desAKH arbeiten jüdische, islamische, evangelische und katholische Krankenseelsorger eng zusammen. Ich schiebe meinen Infusionsständer wie einen Bischofsstab vor mir her. In der katholischen Kapelle hängen Partezettel und Bilder Verstorbener. Auf demBild eines toten Kindes, das auf Mutters Bauch wie schlafend liegt, steht: „Emilie, geboren, getauft und gestorben 9. 6. 2011“. Werhier betet, lernt wirklich beten. Hier ist Gebet nicht nur saft- und kraftloser ethischer Appell an die Gemeindeteilnehmer.

„So leben wir und nehmen immer Abschied“, schreibt Rilke in der achten seiner Duineser Elegien. Ein Leben ohne Abschied ist gar nicht möglich. „Ich will dich nicht verlieren“, hat meine Frau gesagt. „See us in heaven!“, so hat sich Francesca, gebürtige Italienerin, nach einem sehr netten Gespräch in San Francisco spontan von meiner Frau und mir verabschiedet. Das habe ich noch zu niemandem gesagt. Davor teilen wir doch bitte noch ein wenig Zeit hier auf Erden! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2012)

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