Des Reporters Poesie

Ein Biedermann, der sich „bei jeder Gelegenheit als Lehrer publizistischen Anstands“ aufspielt. Und zugleich – so Karl Kraus – „in glücklichen Momenten der humorvollste Beobachter und der klügste Kritiker“: Wer war Eduard Pötzl? Nachrichten aus dem Wien um 1900.

Wien um 1900. Wie wenig andere Autoren bestimmte ein Mann die kulturelle Meinungsbildung in der Stadt: Eduard Pötzl, Redakteur des „Neuen Wiener Tagblatts“, war eine publizistische Autorität mit beachtlichem Wirkungskreis. 40 Jahre lang veröffentlichte er Feuilletons und Lokalskizzen, in Summe mehr als 1000, in denen er auf nahezu enzyklopädische Weise die sich wandelnden Facetten des großstädtischen Alltags thematisierte. Ein Typologe urbanen Verhaltens, kritisch und konservativ, dabei stets witzig, mit ausgeprägtem Gespür für Dramaturgie: einer der populärsten Großstadtreporter seiner Zeit.

Geboren wurde Pötzl am 17. März 1851 in Wien, als erstes Kind von Georg und Katharina Pötzl. Der Vater, ein Notar, war einst aus Mähren zugewandert, die Mutter entstammte einer Weinhauerfamilie aus Neustift am Walde. Nach einigen Jahren übersiedelten die Eltern mit ihren fünf Kindern nach Wiener Neustadt, wo der Vater eine Stelle als Advokat erhalten hatte und Eduard eine wohlbehütete, vom bürgerlichen Elternhaus geprägte Kindheit und Jugend verbrachte. Als der Vater 1873 überraschend starb und die Familie beim Börsenkrach große Teile ihres Vermögens verlor, wurde der Sohn beinahe über Nacht zum Familienerhalter. Er wandte sich dem Journalismus zu, einer aufstrebenden Branche, zu der er große Neigung hegte und die ihm auch aus finanziellen Gründen aussichtsreich erschien. Noch im selben Jahr wurde er Redakteur der „Wiener-Neustädter-Zeitung“, kurz darauf, 1874, wechselte Pötzl, 23 Jahre jung, zum „Neuen Wiener Tagblatt“.

Moriz Szeps, der umtriebige Verleger der Zeitung, war ein Bekannter seines Vaters gewesen, mit besten Beziehungen bis hin zu Kronprinz Rudolf. Beim Wiener Publikum hatte das „Neue Wiener Tagblatt“ erstmals 1870 für Furore gesorgt, als es sich mit seinem Redakteur Josef Schöffel in einer aufsehenerregenden Kampagne erfolgreich für die Rettung des Wienerwaldes einsetzte. Rasch hatte man danach auch überregional Bedeutung erlangt. Gemeinsam mit der „Neuen Freien Presse“ entwickelte sich das „Neue Wiener Tagblatt“ zur führenden Tageszeitung der Monarchie. Seit 1874 war es das auflagenstärkste Blatt von Wien.

Pötzl begann seine Tätigkeit als Gerichtssaalberichterstatter. Die Bezirksgerichte wurden seine Lebens- und Schreibschule. Die hier verhandelten Alltagsprobleme schärften seinen Blick für die milieubedingten Spezifika der Wiener Bevölkerung. Stilistisch gewandt und humorvoll, schilderte Pötzl die unterschiedlichsten Charaktere mit ihren oft absurden Streitigkeiten. Schon bald hatte er sich einen Namen gemacht als ebenso geistreicher wie unterhaltsamer Chronist des Wiener Lebens, in das er ungewohnt realitätsnahe Einblicke zu geben vermochte.

Ein kleiner Charles Dickens

Seine Artikel zeichnete er mit dem Pseudonym „Kleinpetz“. Gerne ließ er sich von Freunden auch „Little Boz“ nennen, in Anspielung auf den seit frühester Jugend verehrten englischen Schriftsteller Charles Dickens, der seine Laufbahn ebenfalls als Journalist begonnen und seine Artikel mit „Boz“ gezeichnet hatte. Nicht zufällig ähnelten Pötzls Figuren den Dickensschen Charakteren, transponiert in die k. u. k. Reichshaupt- und Residenzstadt.

Nach zehn erfolgreichen Jahren legte Pötzl 1884 seine ersten Buchveröffentlichungen vor mit einer Auswahl seiner besten Gerichtsreportagen. Diese sollten, so hoffte er, sich „über das Niveau des eiligen Zeitungsberichtes“ erheben und als „Kulturbild der Zeit“ und „Sittengeschichte des Volkes“ gesehen werden.

Pötzls Themenpalette wurde mit den Jahren immer breiter. Längst hatte er sich zum Allrounder entwickelt, der Essays und Berichte über kulturelle Ereignisse genauso zu verfassen wusste wie Reisereportagen, politische Glossen oder Lokalskizzen. So wechselte er 1884 in die Feuilletonredaktion, wo er die Nachfolge des berühmten Friedrich Schlögl antrat. Wie dieser verstand er sich als Kulturhistoriker, der die Vielfalt des großstädtischen Lebens aus übergeordneter Perspektive kommentierte, kulturelle Trends erkannte, neue soziale Verhaltensmuster analysierte.

Von seiner politischen Ausrichtung her galt das „Neue Wiener Tagblatt“ als deutschliberal, demokratisch, konservativ. Es war, so ein Zeitgenosse, die „Zeitung der Wiener Bürger“, wobei man sich vor allem an das Kleinbürgertum wandte, im Unterschied zur großbürgerlich orientierten „Neuen Freien Presse“. Für Eduard Pötzl jedenfalls ein publizistisches Milieu, in dem er sich voll entfalten konnte, und das er mit seinen Texten entscheidend prägte. Schon bald avancierte er zusätzlich zum stellvertretenden Chefredakteur. Sein regelmäßig am Sonntag erscheinendes Feuilleton, gezeichnet mit dem Kürzel „Ed. Pötzl“, wurde von den Lesern stets sehnsüchtig erwartet. Eine Pflichtlektüre für jeden gebildeten Wiener.

Mitverantwortlich für seinen Erfolg war sein Schreibstil: konventionell und eingängig, bei Weitem nicht so intellektuell und brillant wie seine berühmten jüngeren Kollegen Alfred Polgar oder Karl Kraus, aber durchaus originell und mit viel Gefühl für Menschenzeichnung. Weshalb denn ein Kritiker ironisch zusammenfasste: „Die jüdischen Feuilletonisten haben Stil und Geist und beschäftigen sich mit Frauen und Literaten. Die Volksmänner auf der andern Seite haben Dialekt und Gemüt und beschäftigen sich gleichfalls mit ihnen – aber eben ihren Lesern. Der Tüchtigste darunter ist Pötzl.“

Die Titel seiner Werke verwiesen auf die Art der Texte, die sich als temporäre Einblicke, gleichsam en passant gemachte Beobachtungen in den städtischen Alltag verstanden: „Bummelei“, „Launen“, „Heuriges“. Andere bezogen sich auf die Menschen, die stets im Mittelpunkt der humorvollen Betrachtungen standen: „Mitbürger“, „Eingeborene“, „Zeitgenossen“. Und auch topografisch steckte Pötzl sein literarisches Terrain ab, wie die Werke „Rund um den Stephansturm“, „Hoch vom Kahlenberg“ oder „Donauluft“ verdeutlichten. Der Blick auf die Stadt Wien aus allen möglichen Perspektiven, von oben und unten, vom Zentrum und von den Rändern, war zu seinem Markenzeichen geworden.

Stets verstanden sich seine Ausführungen als die eines Zeitzeugen, der mit Staunen, aber auch mit kritischem Blick die rigorose Umgestaltung seiner Heimatstadt miterlebte. „Wien im Wechsel“ nannte Pötzl denn auch treffend eines seiner Feuilletons, in dem er den gewaltigen „Umhäutungsproceß“ der Stadt thematisierte. Aufmerksam und bisweilen in „freudiger Columbusstimmung“ spürte er den Facetten dieses gewaltigen Tansformationsvorgangs nach. Er besuchte die entlegensten Winkel der Stadt, begab sich nach Kaiser-Ebersdorf, Stadlau oder Kagran, wo neu eingemeindete Vororte der Entdeckung harrten, unternahm Probefahrten mit alten oder neu hinzugekommenen Verkehrsmitteln, und stets schaute er dabei den ihm begegnenden Menschen aufs Maul. Eine zeitgenössische Kritik resümierte sein Tun mit den treffenden Worten: „Seine Themen erweitern sich mit dem Wachstum der Stadt, er ist hinter allem her, was der Tag gebiert.“

Als Pötzl dann noch mit größtem Erfolg die zwei literarischen Kunstfiguren „Herr Nigerl“ und „Gigerl“ entwarf und sich als gefragter Experte des Wiener Dialekts etablierte, war er endgültig zum Vorzeigeautor der Stadt mutiert. Mit einer Reputation weit über die Grenzen Österreichs hinaus. So wurde Pötzl von der Münchener „Allgemeinen Zeitung“ als der „anregendste, schärfste Humorist des Wiener Genrefeuilletons“ bezeichnet, für das Hamburger „Fremdenblatt“ war er schlicht ein „lachender Philosoph“. Und auch in seiner Heimatstadt blieb die Anerkennung nicht aus. Pötzl wurde Vizepräsident des renommierten Journalisten- und Schriftstellervereins „Concordia“ und schließlich Ehrenbürger der Stadt Wien.

„Krauthappel“ Secession

Höhepunkt seines literarischen Schaffens war die noch zu Lebzeiten erfolgte Herausgabe der gesammelten Werke. Insgesamt 18 Bändchen erschienen 1906 in einer liebevollen Edition des Verlags Mohr. Das Vorwort dazu verfasste Freund Peter Rosegger, der Pötzl „echte Poesie“, angereichert mit einer Portion gesunden Konservativismus, attestierte. Dieser ausgeprägte Konservativismus war es denn auch, der Pötzl Kritik einbrachte. Am bekanntesten wurde wohl seine lautstarke Ablehnung der modernen Kunst, namentlich der Wiener Secession und deren Neubau, über den Pötzl das bekannt gewordene Schmähwort „Krauthappel“ in Umlauf brachte. Ebenso vehement trat er gegen die Zerstörung des alten Stadtbildes auf, gegen dessen sich abzeichnende „Amerikanisierung“. Technischen Neuerungen gegenüber, egal ob Telefon, Schreibmaschine oder Automatenbuffet, verhielt er sich skeptisch. Allein die Einführung des Automobils wurde mit vorsichtigem Optimismus begrüßt.

Auch wenn Pötzl seine Kunstkritik keineswegs so rigoros verstanden wissen wollte, blieb das Klischee des reaktionären Kulturkritikers doch an ihm haften. Nicht nur Karl Kraus versprühte in seiner „Fackel“ mehrmals beißenden Spott über den „Biedermann“, der sich „bei jeder Gelegenheit als Lehrer publizistischen Anstands“ aufspiele. Wenngleich er zugestand, dass Pötzl „in glücklichen Momenten der humorvollste Beobachter und der klügste Kritiker sein kann“. Diese Ambivalenz sollte das künftige Image Pötzls prägen, auch noch nach dessen Tod im August 1914. Erst mit beträchtlichem zeitlichem Abstand, der allmählichen Sichtung des Gesamtwerkes und der Aufarbeitung weiterer zeitgenössischer Quellen lässt sich das Bild nunmehr korrigieren. Und Pötzl in seiner Gesamtheit tritt hervor, als ein in seiner Vielfalt einzigartiger Stadtinterpret, ein bedeutsames Stück Kultur- und Pressegeschichte der Jahrhundertwende repräsentierend. ■

PÖTZL: Buch und Präsentation

Im Presseclub Concordia (Wien I, Bankgasse 8) wird am 23. Oktober der von Peter Payer herausgegebene Band „Eduard Pötzl: Großstadtbilder. Reportagen und Feuilletons – Wien um 1900“ (Löcker Verlag, Wien) präsentiert. Es liest Fritz von Friedl, die „Strottern“ spielen auf. Beginn: 18.30 Uhr.

Peter Payer, Jahrgang 1962, Historiker und Stadtforscher, arbeitet als Bereichsleiter im Technischen Museum Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2012)

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